Halbbildung, Halbgötter und Halbleiter

Über Bildung und die Unmöglichkeit eines richtigen Denkens im falschen Kopf (1)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Halbbildung, Halbgötter und Halbleiter
 
Über Bildung und die Unmöglichkeit eines richtigen Denkens
im falschen Kopf (1)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Theorie der Halbbildung“. So heißt ein Aufsatz, den einer der philosophischen Halbgötter, der längst legendäre Theodor W. Adorno, im Jahre 1959 vorgelegt hat, und zwar in einem Band mit dem Titel „Soziologie und moderne Gesellschaft“, in dem die „Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages“ nachzulesen sind, der im Mai 1959 in Bremen veranstaltet worden war. „Theorie der Halbbildung“, das klingt wegen des ersten Wortes für diejenigen vielversprechend, die zum Beispiel Albert Einsteins Theorien des Kosmos und die Quantentheorie des Lichts studiert haben und von beiden physikalischen Ansätzen entzückt sind. Aber man soll sich bei sozialwissenschaftlichen Texten nicht zu früh auf sprachliche oder auf eindringliche Qualität freuen. Schließlich heißt es etwa bei dem noch unter den Menschen weilenden Halbgott Jürgen Habermas vorsorglich, „Theorien sind Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren“, was dem eher bescheiden auftretenden Philosophen Karl Popper zufolge nichts weiter meint als, „Theorien sollten nicht ungrammatisch formuliert werden, ansonsten kannst du sagen, was du willst“. Dies tun dann Habermas und andere Halbgötter ihrer Zunft auch fleißig.[1] Und so schreibt Adorno in seiner „Theorie der Halbbildung“ einfach hin, was ihm so gerade einfällt, und das bedeutet unter anderem, daß der Soziologe zum Beispiel behauptet, so etwas wie „gesellschaftliche Bewegungsgesetze“ zu kennen – was nichts als den Newton Neid seiner Wissenschaft offenlegt –, und darüber hinaus beklagt Adorno eine „ungeformte Natur“ und „deren Rohheit“, was er als „das alte Unwahre“ abtut, das er zu kennen vorgibt. Der Erfinder der Halbbildung kritisiert dann weiter nicht die halb, sondern „die ganz angepaßte Gesellschaft“ – angepaßt woran? –, die ihm aber „bloße darwinistische Naturgeschichte“ zu sein und „das survival of the fittest“ zu demonstrieren scheint. Dabei ist Adorno peinlicherweise entgangen, daß das zitierte Überleben des Tüchtigsten nicht von Charles Darwin stammt und vielmehr als tautologische Aussage von einem Sozialwissenschaftler der Idee eines evolutionären Werden des Lebens aufgepfropft worden ist, wobei das angeführte Schlagwort die Kenner des Biologischen kalt läßt, die mehr auf Mechanismen der Selektion achten.
 
Vom Standpunkt eines Naturwissenschaftlers aus erweist sich Adorno auf diese Weise nicht als halb-, sondern als ungebildet, was unter seinen Kollegen aber nicht weiter auffällt. Das heißt, man könnte ihm trotz seiner Wissenslücke eine Halbbildung zugestehen, wenn man sich auf „Die zwei Kulturen“ einläßt, die erstmals im gleichen Jahr 1959 unterschieden worden sind, und zwar durch den britischen Physiker und Romancier Charles Percy Snow, der damit die sich gegenseitig eher unverständlich begegnenden und lieber aus den Weg gehenden Bereiche der Kunst – vor allem der Literatur – und der Naturwissenschaften meint.[2] Snow beklagt sich in dem dazugehörigen Aufsatz über die snobistischen Intellektuellen in Cambridge, die zwar von Shakespeares Sonetten schwärmen, aber nichts vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wissen wollen. Sie kommen nicht einmal mit den einfachsten Begriffen der Naturwissenschaften wie denen der Kraft und der Masse zurecht, für die eine „Industrieproduktion genauso geheimnisvoll wie Gesundbeten“ ist, wie Snow sichtlich verärgert über den Hochmut der Ahnungslosen schreibt. Den deutschen Denker Adorno interessiert wie alle seine geisteswissenschaftlichen Kollegen ebenfalls nur eine Hälfte der Kultur, nämlich „jene Sphäre, auf welche der Begriff der Bildung primär zielt“, wie er sich zu behaupten erdreistet, und das sind für ihn „Philosophie und Kunst“, und damit Basta, wie ein ehemaliger Kanzler formulieren würde, der sicher viel von Adorno gehalten hat (auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß ihm jemals ausführlich dessen Schriften vor die Augen gekommen sind).
 
Menschen am Radio
 
Mit seiner „Theorie der Halbbildung“ will der auch als Musikphilosoph bestaunte Adorno aber weniger die beiden genannten Kulturen gegeneinander ausspielen (von denen er sowieso nur eine anerkennt oder überhaupt kennt). Er will vielmehr die Menschen abfällig bedenken oder gar kränken, die sich bei dem bedienen, was der großbürgerliche und beamtete Denker als Massenmedien gerne geringschätzt und abwertet, und er meint damit in den 1950er Jahren das Radio und das Fernsehen, die das Volk „durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefern“, wie Adorno verächtlich schreibt. Im Anschluß daran zitiert er eine amerikanische Studie, die besagt, „daß von zwei Vergleichsgruppen, die sogenannte ernste Musik hörten und von denen die eine diese Musik durch lebendige Aufführungen, die andere nur vom Radio her kannte, die Radiogruppe flacher und verständnisloser reagierte als die erste.“
 
Solche abschätzigen Bemerkungen sind deshalb ärgerlich, weil in den Jahren, von denen Adorno spricht, meine Eltern gar nicht in der Lage waren, sich Konzertkarten zu leisten, und ihnen die Musik Mozarts und Beethovens nur durch das Radio oder mit Hilfe einer Schallplatte zu Ohren kommen konnte. Deshalb empfinde ich es schlicht als unverschämt, wie der saturierte Professor Adorno da herumfeixt und fleißige Menschen von seinem höheren sozialen Status aus kaltschnäuzig abweist und verachtet. Er wettert gegen die Kulturindustrie, die seine persönliche Position und elitäre Einschätzung bedroht, und er spürt und bemerkt nicht, daß sie in den 1950er Jahren des Wiederaufbaus dank der damaligen Medien die einzige Hoffnung der kleinen Leute sein konnte, am Bildungsgeschehen teilzunehmen, und zu diesen hoffnungsfrohen Menschen zählten meine Eltern und eines ihrer Kinder, das sich schon bald über den akademischen Hochmut ärgerte, mit dem Adorno und seine Kollegen aus ihrem Gelehrtenhimmel auf ihn herabsahen, um unter sich bleiben und ihre Urteile fällen zu können.
 
Wenn ich damals groß genug gewesen und dem Philosophen der Halbbildung begegnet wäre, hätte ich ihn gerne gefragt, ob er erstens auch nur die geringste Ahnung von der Physik habe, mit der der Rundfunk funktioniert, und ob er zweitens etwas über die handlichen Transistoren sagen könne, die seit den 1950er Jahren als Radiogeräte mit gutem Empfang zu einem erschwinglichen Preis zu kaufen waren, und ob er drittens gelesen oder gehört habe, was Einstein 1930 zur Eröffnung einer Funkausstellung in Berlin gesagt hat.[3] Nachdem Einstein bei seinem Vortrag erst einmal von den großen Physikern geschwärmt hat, denen die Menschheit die Erkundung und Erzeugung von Licht- und Radiowellen zu verdanken hat – Adorno kennt sicherlich keinen Gedanken der von Einstein genannten Forscher, zu denen unter anderem Michael Faraday, James C. Maxwell und Heinrich Hertz gehören –, nachdem also Einstein seine großen Kollegen aus dem 19. Jahrhundert aufgezählt und ihre Leistungen dem Publikum als Bildungsgut empfohlen hat, spricht er die von ihm begrüßten „An- und Abwesenden“ direkt mit einer Mahnung an:
 
„Sollen sich alle schämen, die sich der Wunder von Wissenschaft und Technik bedienen und geistig nicht mehr davon verstehen als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst.“
 
Adorno müsste sich mit dieser Vorgabe ganz sicher schämen, und zwar erst recht in den 1950er Jahren, als die Radios durch technische Entwicklungen viel besser geworden waren und mittels höchst raffinierter Verstärkerschaltungen einen immer besseren und rauschärmeren Klang hervorbrachten und die Menschen entzückten. Die fabrizierten Wunderwerke hießen Transistoren und gaben den Empfängern ihren damals gebräuchlichen Namen. Ursprünglich – und heute schließlich wieder – meint Transistor ein elektronisches Bauelement, das um 1947 entwickelt worden war und mit Hilfe von Materialen funktioniert, die Halbleiter heißen, womit endlich der dritte Begriff aus der Überschrift auftaucht, der allein deshalb Aufmerksamkeit verdient, weil es heute in jedem der weltweit milliardenfach verbreiteten iPhones viele Milliarden (!) von Transistoren gibt, was den Gedanken nahe legen könnte, daß es sich lohnt, mehr von diesen wahrlich weltverändernden winzigen Wunderwerken zu wissen, wenn man nicht im Zustand der blöden Kuh verharren will, von der Einstein einst in Berlin gesprochen hat. Wer nichts von Halbleitern weiß, dem kann bestenfalls eine Halbbildung zugestanden werden, und wahrscheinlich nicht einmal das. Er oder sie sollten sich auf jeden Fall schämen, wie Einstein gesagt hat, vor allem, wenn er oder sie immer noch meint, lässig auf dieses wissenschaftliche Wissen verzichten zu können, um es nicht als Bildungsgut anerkennen zu müssen.
 


[1]
                        [1] Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, München 1984, S. 112

[2]
                        [2] Helmut Kreuzer (Hrsg.), Die zwei Kulturen – Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, C.P. Snows Thesen in der Diskussion, München 1987

[3]
                        [3][3] Wer bei YouTube „Einstein 1930 Funkausstellung Berlin“ eingibt, bekommt ein etwa dreiminütiges Video zu sehen, auf dem man Einsteins Ansprache hören kann.

 
 
© 2023 Ernst Peter Fischer
  
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