Gedankensenke

Fünfminutenprobe oder Ein bedenkliches Angebot

von Andreas Steffens

Foto © Zbigniew Pluszynsk

Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens

senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch

Fünfminutenprobe

oder

Ein bedenkliches Angebot


Zu den Seltsamkeiten im kaum noch gesichteten Erbe des Historismus gehört die nie begründete Überzeugung, die Dauer öffentlicher Aufmerksamkeit für geistige Gebilde bürge für deren Bedeutung. Nun kann gewiß nur als bedeutend angesehen werden, was überhaupt bemerkbar ist. Vieles, was einsame Grübler schufen, das auf Nimmerwiedersehen mit ihnen verschwand, wird ebenso wichtig gewesen sein wie alles, was in öffentlichem Ansehen steht und die Maßstäbe der Überlieferung prägt - und manches wichtiger. Aber kann deren Dauer über Rang entscheiden? Dauer kann nur haben, was vorhanden ist, aus ihr aber nichts entstehen. Dauer begründet nicht, sie bestätigt.
Da muß sich ein Stück plumpesten Sozialdarwinismus in die Subtilitäten vornehmer akademischer Geistigkeit des 19. Jahrhunderts eingeschlichen haben, das, bequem wie es zu handhaben war, bis heute fortwirkt. Gut ist, was nicht schnell vergessen wird.
Stattdessen müßte gelten: Was bedeutend ist, ist es einfach, gleichgültig, ob und wie lange oder wie kurz es wahrgenommen wird.
Dann wäre das Umgekehrte der Fall: Je geringer der Zeitaufwand, um etwas in seiner Bedeutung auszumachen, desto solider sein Rang.
Eine solche Probe hat Paul Valéry überliefert, ohne aus der Anekdote, in der sie steckt, diese Pointe ganz zu ziehen. Er begnügt sich mit einer Andeutung.
Von den bildenden Künstlern, mit denen er nicht nur aus gesellschaftlicher Nötigung, sondern aus Neigung näheren Umgang hatte, beschäftigte ihn Edgar Degas auch literarisch in erheblichem Umfang. Zu  "Tanz, Zeichnung und Degas" zusammengefaßt, erschienen die jenem gewidmeten Aufzeichnungen auch als eine seiner ersten Veröffentlichungen nach dem Krieg in Deutschland, als Band Sechs der Bibliotheks-Reihe des jungen, noch in Berlin ansässigen Suhrkamp-Verlages.
Das Buch birgt nicht nur Erinnernswertes aus eigenen Begegnungen mit Deags, sondern auch Anekdoten, die andere Veléry zutrugen. Darunter eine, die den Maler als forschen philosophischen Examinator vorstellt.

"Léon Brunschwicg hat mir erzählt, daß er seinerzeit als junger Philosophiestudent bei Ludovic Halévy an der Rue de Douai mit Degas zusammengetroffen und ihm vorgestellt worden sei.
Wie Degas erfuhr, daß er es mit einem Metaphysiker zu tun hatte, zog er ihn in eine Fensternische und fiel über ihn her: „Nun, junger Mann, Spinoza, - können Sie mir das in fünf Minuten erklären?“
Ich finde",
kommentiert Valéry, "daß diese irgendwie ungeheuerliche Frage zu denken gibt. Vielleicht wäre es kein so großes Vergehen gegen die Philosophie, ja führte möglicherweise zu interessanten Konsequenzen, wenn man sämtliche Kenntnisse in zwei Klassen einteilte: solche, die sich in fünf Minuten auseinandersetzen lassen, und die übrigen...
Brunschwicg hat mir nicht gesagt, was er Degas in jener fatalen Nische zur Antwort gegeben; wäre ich an seiner Stelle gewesen, so hätte ich von Degas verlangt, er möge mir gefälligst in fünf Minuten die Malerei erklären."
Leider erfährt man auch nicht, ob der angehende Philosoph sich auf dieses Ansinnen einließ, noch, ob es ihm gelang, ihm nachzukommen, falls er es tat.
Reagierte er nicht nur mit der wahrscheinlichen Empörung des im Ehrgefühl für sein Metier Getroffenen, woran seine Jugend ihn gehindert haben wird, sondern in dessen Geist, so bot der respektlose Künstler ihm nichtsahnend die Chance, sich der Solidität dieses Metiers zu vergewissern.
Auf das Kurzexamen einzugehen, von dessen negativem Ausgang überzeugt zu sein man Degas unterstellen muß, unterwarf nicht nur den Studenten einer empfindlichen Verstehens- und Gedächtnisprobe, sondern das Objekt der Frage dem Test auf den Gehalt seiner Metaphysik: Enthält sie eine Wahrheit, dann muß es möglich sein, sie kurz auszusprechen, sofern man ihre ausführliche Darlegung verstanden hat.
Ohne zu wissen, was er tat, indem der klassische Hochmut geheuchelten Interesses ihn den jungen Philosophen in die Verlegenheit setzen ließ, für die Bedeutung seines Metiers in praktischer Nutzanwendung en passent einzustehen, bot Degas ihm einen vernünftigen Wertmaßstab an: Bedeutend ist, was schnell verständlich gemacht und ebenso schnell begriffen werden kann. Oder, mit Kant, der ganze Aufwand der Philosophie dient zu nichts anderem, als zu verstehen, was ein jeder immer schon weiß, ohne es zu wissen.
Brunschwicg wurde ein zu fleißiger Philosophiehistoriker, als daß es wahrscheinlich erschiene, daß er von diesem Angebot zur Umkehrung des historistischen Dogmas der Dauer mehr als nur diesen anekdotischen Gebrauch machte, und Valéry, der ein aus grundsätzlicher Skepsis gegen Bedeutungsbehauptungen bedeutender Philosoph war, beließ es neben der Vorstellung einer zwar schlagfertigen, doch simplen Retourkutsche bei der Andeutung dieses Probiersteins, im Ton der überheblichen Ironie dessen, der vom negativen Ausgang seiner Anwendung auch ohne diese schon überzeugt ist.


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007