Original vs. Reproduktion

Wolfgang Ullrich – „Raffinierte Kunst, Übungen vor Reproduktionen“

von Johannes Vesper

„Raffinierte Kunst, Übungen vor Reproduktionen“
 
frz. raffiner: verfeinern, läutern, listig auf etwas aus sein
 
 „Der Schatten der Bäume ist im Wasser tiefer
und vollkommener als die Bäume selber.“
(Peter Paul Rubens)
Reproduktionen in der Kunst
 
Wer zunächst Abbildungen betrachtet und anschließend das originale Kunstwerk, wird nicht selten enttäuscht. Aber seit der Erfindung von Holzschnitt, Kupferstich und Radierung, im 19. Jahrhundert von Lithographie und endlich Fotografie, lebt die Kunst vor allem von ihren Bildern. Der Holzschnitt entwickelte sich in Europa anfänglich parallel zu den Papiermühlen im 13. Jahrhundert in Italien, um 1390 in Deutschland und zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde er zum Massenkommunikationsmittel, woraufhin Albrecht Dürer oder auch Peter Paul Rubens selbst die Verbreitung ihrer Werke als Kupferstiche oder Holzschnitte besorgten. Rubens betrieb in seinem Atelier eine Manufaktur für Gemälde und daneben eine eigene Reproduktionsabteilung. Er scheute in Verfolgung seines Urheberrechts auch vor Prozessen nicht zurück und kämpfte juristisch bis zum Gerichtshof in Paris!
 
Also machen Abbildungen aller Art die künstlerischen Ideen der Künstler sichtbar wie das Buch, welches die Gedanken der Gelehrten, der Dichter und Schriftsteller verbreitet. Kunstkenner unterschieden früher kaum zwischen Gemälde und Grafik desselben, weil die Gemälde ja vor allem als Grafiken bekannt geworden sind. Das enge Verhältnis zwischen Kupferstecher und Maler lebt noch heute weiter in der Phrase: „Mein lieber Freund und Kupferstecher“, und der Ausdruck der „blinden Treue“ mag auch vom Verhältnis zwischen Grafiker und Maler her rühren, wenn der Grafiker sozusagen das Bild völlig mechanisch und exakt in die Grafik übertrug, statt es zu interpretieren, hermeneutisch zu verändern. Der Vergleich mit einem Musiker erscheint nicht ganz abwegig. Ohne Musiker kann die musikalische Idee, wie sie im „Notenbild“ erscheint, ein Publikum nicht erreichen. Stecher wie Musiker besorgten die Verbreitung der Kunst. Die Aktionskunst von Josef Beuys lebt in den Fotografien von Ute Klophaus weiter, die Musik von Mozart und Beethoven in Konzertaufführungen oder Reproduktionen (Schallplatte, CD, DVD u.a.). Vielleicht entspricht sogar die vor Jahrhunderten durch weite Konkurrenz der Stecher stimulierte brillante Qualität der grafischen Reproduktionen dem heutzutage weitverbreiteten Virtuosentum in der klassischen Musik? Dabei begann die technische Reproduktion von Ton und Musik erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Thema ist vielschichtig und Musik mit dem Notenbild als Concept Art zu verstehen?
 
Oft wurden die Reproduktionsgrafiker auch mit Übersetzern verglichen, im 18. Jahrhundert z.B. von Denis Diderot. Wie geschätzt Kupferstecher waren, geht daraus hervor, daß sie schon 1665 in die Academie Royale de Peinture et Sculptur aufgenommen worden waren.
 
Das genaue Abbild eines Gemäldes, das Faksimile, ist eine eigene Betrachtung wert. Wie und wodurch unterscheidet es sich vom Originalgemälde? Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts diskutierten heftig über solche Fragen. Max Sauerlandt, der Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe definierte das Kunstwerk als „Verschmelzung von Idee und Materie“, fast analog wie Seele und Körper. Nach Walter Benjamin macht „das Hier und Jetzt des Originals den Begriff seiner Echtheit aus“. Dabei kommen die bildende Kunst und die Kunsttheorie jedenfalls seit dem Klassizismus im Wesentlichen mit Reproduktionen aus, die das Original durchaus gelegentlich ergänzen, stellt der Autor fest. Und Reproduktionen können dazu dienen, Kunst nicht nur anzuschauen, sondern durchaus „ihrer habhaft zu werden“ (Walter Benjamin). Ein Kult um das Original scheint also schwer begründbar. Die Frage, was ist Kunst, was macht sie aus, wird auch in diesem unterhaltsamen Buch nicht eindeutig beantwortet.
 
Zahlreiche Anmerkungen laden zu tieferer Beschäftigung ein. Das anregende Buch ist auch 14 Jahre nach seinem Erscheinen überaus lesbar. Der Autor, geb. 1967, lehrt als Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.
 
Wolfgang Ullrich – „Raffinierte Kunst, Übungen vor Reproduktionen“
© 2009 Verlag Klaus Wagenbach, 156 Seiten, gebunden, mit zahlreichen, teilweise farbigen Abbildungen - ISBN 978-3-8031-5178-0
24,- €

Weitere Informationen: www.wagenbach.de