„Die Liebe, der Pulsschlag des Universums“

La Traviata in der Oper Wuppertal

von Johannes Vesper

Lisenka Milène Kirkcaldy als Schmetterlingsdämon - Foto: Björn Hickmann

„Die Liebe, der Pulsschlag des Universums“
 
La Traviata in der Oper Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Uraufführung 06.03.1853. Libretto von F.M. Piave nach dem Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas d.J..

Künstlerisches Team: Johannes Witt (Musikalische Leitung) - Nigel Lowery (Inszenierung, Bühne und Kostüme) - Ulrich Zippelius (Chor) - Marc von Reth (Dramaturgie)
Besetzung: Ralitsa Ralinova: Violetta Valery - Hyejun Kwon: Flora Bervoix - Anna-Christine Heymann/Ute Elisabeth Temizel: Annina - Sangmin Jeon: Alfredo Germont - Simon Stricker: Giorgio Germont - Mark Bowman-Hester: Gastone - Zhive Kremshovski: Baron Douphol; Timothy Edlin: Marchese d’Obigny - Sebastian Campione: Dottore Grenvil - Giorgi Davitadze: Giuseppe - Hak-Young Lee Diener - Kommissionär

La Traviata ist vielleicht die privateste Oper Giuseppe Verdis, spiegelt sie doch ein bißchen seine eigene Biographie. Die Opernsängerin Giuseppina Strepponi hatte schon drei Kinder und einige Männerbeziehungen hinter sich, als Giuseppe sich in sie verliebte, und die beiden ein Paar wurden. Das wurde damals nur schwer toleriert, hat ihn aber stimuliert. Er wollte die damalige Lebenswelt, die moderne Gegenwart auf die Bühne bringen, keine historischen Dramen wie Don Carlos, Othello oder Aida. Liebe und Freiheit unabhängig von Doppelmoral und gesellschaftlichem Druck sind das Thema. In nur fünf Wochen schleuderte er die Partitur aus der Feder auf die Notenblätter.
 
Diese Wuppertaler Premiere war eine schwere Geburt. Schon 2021 wurde La Traviata konzertant in der hiesigen Stadthalle aufgeführt: einmal wegen Corona und dann wegen des Wupperhochwassers, welches das Opernhaus als Spielstätte zeitweise zerstört hatte. Am 26.02.2023 konnten Ralitsa Ralinova (Violetta Valery) und Simon Stricker (Giorgio Germont) ihr Debüt für diese Rollen endlich auf der Bühne des ausverkauften Opernhauses präsentieren. Am Pult stand Kapellmeister Johannes Witt, der am Aalto Theater in Essen viel Erfahrung gesammelt und u.a. auch in Wien und Stuttgart reüssiert hat. Hier ist er mit der deutschen Erstaufführung von „I l canto attrista perché“ in bester Erinnerung, ebenso wie der gebürtige Londoner Nigel Lowery als Regisseur, der die jetzt die Inszenierung besorgt und auch Bühnenbild wie Kostüme verantwortet hat.
Zu Beginn humpelt ein gebrechlicher alter Mann mit weißem Bart (Sebastian Campione), ganz in schwarz gekleidet. langsam von links nach rechts über die Bühne. Erst im letzten Akt ist er als Arzt und Tod identifizierbar. Ernst seelenvoll, kammermusikalisch, beginnen die Streicher. Aber nach der Cellokantilene startet im schönen Salon eines Pariser Palais das Fest des 1. Aktes mit schnellem Walzer. Hier verliebt sich Alfredo Germont (Sangmin Jeon) in Violetta, die die Liebe bisher nur als sexuelle Erwerbstätigkeit kennt und von der intensiven Werbung des Gastes „seltsam“ bewegt ist. Sie schenkt ihm ihre Lieblingsblume, die Kamelie. Wenn sie verwelkt ist, darf Alfred wiederkommen.
 

Mark Bowman-Hester, Hyejun Kwon, Sangmin Jeon, Ralitsa Ralinova, Zhive Kremshovski, Opernchor und Extrachor der Wuppertaler Bühnen - Foto: Björn Hickmann

Im 2. Akt, inzwischen lebt das Paar auf dem Land, erfährt Alfredo von Violettas drohendem finanziellen Zusammenbruch. Sein Vater bittet in Alfredos Abwesenheit Violetta, die Beziehung zu Alfred für immer zu beenden. Eine Hure wie sie sei in der Familie nicht zu ertragen. Die Auseinandersetzung zwischen Violetta und dem Vater, charakterisiert von gegenseitigem Verständnis für eine unmögliche Beziehung wurde in der Wuppertaler Aufführung zum musikalischen Höhepunkt, obwohl eigentlich eine solche Familienproblematik - Mesalliance des Bruders gefährdet die Ehe der Schwester - heutzutage hier außerhalb muslimischer Ehrvorstellungen kaum mehr zu vermitteln ist. Die psychische Wucht und Dramatik der handelnden Personen aber rührte das Publikum. Jedenfalls ist Violetta am Boden zerstört, verzichtet auf Alfred und schreibt ihm, daß sie sich trennen müssen. Wie Ralitsa Ralinova links vorne auf der Bühne sitzt und piano in seelenvollem Legato ihr Leid aussang, höchst sensibel vom Orchester unter Johannes Witt begleitet, ging direkt ins Herz. Vater Giorgio Germont zeigte sich zunehmend von der Würde und Liebe dieser Frau beeindruckt, wie das Publikum von Simon Stricker, der stimmlich eindrucksvoll seine Ungeheuerlichkeiten wie seine Skrupel das Publikum gesanglich spüren ließ. Als Alfredo von der Trennung erfährt, „zersägen ihm tausend Schlangen die Brust“. Violetta beschwört ihre existentielle Lebenslust, die sie an sich hinter sich gelassen hat, und Ralitsa Ralinova bot mit ihren eleganten Koloraturen Vergnügen auf höchstem Niveau im wahrsten Sinne des Wortes. Immer wieder gab es Sonderapplaus. Im 2. Bild des Aktes wird in Floras Pariser Salon erneut gefeiert. Mit großem Kescher geht man symbolisch auf Schmetterlings-(?) oder Seelenjagd? Ein schöner Schmetterling (Lisenka Milène Kirkcaldy) tanzte wieder Solo, vielleicht die Freiheit der Seele demonstrierend, ein vielschichtiger Regieeinfall; denn andererseits ist der Schmetterling auf Grabsteinen Symbol des Todes. Liebevoll choreographiert, singt sauber, exakt wie temperamentvoll der großes Opernchor (Einstudierung Ulrich Zippelius): Zigeunerinnen mit kurzen wippenden Röckchen, darunter durchaus plumpe Unterhosen, lesen den Männern das Schicksal aus der Hand, die ihrerseits als Spanier im Stierkampf beeindrucken wollen. Im Glücksspiel gewinnt der zutiefst beleidigte Alfredo viel Geld, entsprechend dem alten Sprichwort: Glück im Spiel gleich Pech in der Liebe. Er blafft die unglückliche todkranke Violetta an, wirft ihr das gewonnene Geld zu Füßen, verläßt sie, nicht ahnend, welche Konflikte die Geliebte durchsteht. Offensichtlich gingen die Männer schon damals ziemlich ruppig mit ihren Frauen um.
 

Ramazan Kirca, Mark Bowman-Hester, Lisenka Milène Kirkcaldy, Opernchor und Extrachor der Wuppertaler Bühnen - Foto: Björn Hickmann

Im 3. Akt läßt Violetta in einem Pariser Dachzimmer ihre Existenz, ihr Leben Revue passieren, reflektiert musikalisch zuletzt fast stimmlos ihre verzweifelte Situation im Angesicht des drohenden Todes, mit Ralitsa Ralinova eine Sternstunde im Barmer Opernhaus. Einfach großartig. Alfredo (Sangmin Jeon stimmlich wie immer glänzend) kehrt zurück, sie versöhnen sich, phantasieren über ein zukünftig glückliches Leben. Sie stirbt nach angedeutetem Totentanz in den Armen des schwarzen Todes. Das alles im dreiviertel Takt. Ist der Totentanz ein Walzer? Das Publikum zeigte sich von dieser Aufführung, die auch in allen Nebenrollen stimmlich wie darstellerisch hervorragend besetzt war, schwer beeindruckt. Das schöne Bühnenbild und die Kostüme, die ganze Inszenierung ließen Raum für die zeitlose seelische-emotionale Dramatik, die sich zwischen Mann und Frau auch unabhängig von sozialen und gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts ständig abspielt. Stehende Ovationen, riesiger Applaus, Bravi und Pfiffe über mehr als 10 Minuten beschlossen diesen großen Opernabend.
 

Ralitsa Ralino, Sebastian Campione - Foto: Björn Hickmann

Wie die neue Intendantin kürzlich in der Presse mitteilte, wird von diesem hervorragenden Ensemble in der nächsten Spielzeit kaum etwas übrigbleiben. Man kann nur hoffen, daß es ihr gelingt, adäquaten Ersatz zu engagieren. Nach dieser Premiere eine Herausforderung.

Weitere Aufführungen: So., 5. März 2024, So. 2. April 2023, 19:30 Uhr, So. 11. Juni 2023, 19:30 Uhr