Halbbildung, Halbgötter und Halbleiter

Über Bildung und die Unmöglichkeit eines richtigen Denkens im falschen Kopf (3)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Halbbildung, Halbgötter und Halbleiter
 
Über Bildung und die Unmöglichkeit eines richtigen Denkens
im falschen Kopf (3)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
 
Die neuen Radios
 
Zurück zum Transistor: Bereits 1953 kamen erste Transistorradios auf den Markt, womit in den Geschäften Geräte zum Empfang von Rundfunksendungen gemeint sind, bei denen ausschließlich Transistoren als aktive Bauelemente zur Verstärkung von elektrischen Signalen eingesetzt wurden, was die Apparate schön kompakt und wenig reparaturanfällig werden ließ. Erwähnt werden sollte, daß es bald japanische Firmen waren, die den Elektronikmarkt mit eleganten Geräten aufmischten, wobei es vor allem ein Unternehmen mit dem Namen SONY war, das unter der Leitung von Masaru Ibuka und Akio Morita ab 1958 zum Weltführer aufstieg. Ich stelle mir vor, wie Adorno mit einem SONY Transistor am Schreibtisch sitzt und sich vielleicht wundert, wie dieses Klangwunder musikalischen Genuß auch dann möglich macht, wenn man keine teure Konzertkarte erworben hat und sich nun auf seinem Platz über das hustende Publikum ärgert.
 
Das genannte Jahr 1958 führt zu der Zeit zurück, in der Adorno die Hörer am Radio verunglimpft, da sie nicht in ein Konzert gehen können und vor den Lautmaschinen hocken bleiben. Man fragt sich, was er heute angesichts einer „Theorie der Unbildung“ sagen würde, in dem Kulturpublizist Konrad Paul Liessmann verkündet, daß unter Bildung längst nur noch nützliche Informationen verstanden werden, während in soziologischen Texten die gute alte Bildung durch eine flotte Kompetenz ersetzt wird, was lustigerweise dazu geführt hat, daß Philosophen eine „Inkompetenzkompensationskompetenz“ bei viele Kollegen diagnostizieren, auch wenn die das nicht zur Kenntnis nehmen. Mit diesem Ausdruck hat Odo Marquard 1973 das Herumhampeln bezeichnet, das Menschen an der Universität exerzieren, wenn sie vor den zu untersuchenden Phänomenen und ihrer Wissenschaft so stehen wie ein Ochse vor der frisch gestrichenen Stalltüre.
 
Kompensationssimulationskompetenz
 
Bekanntlich beklagt sich Goethes gelehrter Faust, „Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein“, und auf diese Weise bekommt die aktuelle Sau, die in der Bildungsdebatte durch das inzwischen digitale Dorf getrieben wird, immer wieder einen neuen Namen. Als man mit der Bildung nicht recht weiterkam – und die Allgemeinbildung nicht nur an den Rand, sondern darüber hinausgedrängt und abgeschafft hatte –, tauchte wie von Zauberhand die „Kompetenz“ auf, um die es von nun an gehen sollte und die gleich mindestens in Handlungs-, Methoden- und Fachkompetenz zerlegt wurde, um jeder und jedem die Möglichkeit zu geben, sich als kompetent zu begreifen. Vielleicht gibt es auch längst eine Kompensationssimulationskompetenz, wie der Konstanzer Hochschullehrer Volker Friedrich meint konstatieren zu können, um danach nur noch zu resignieren.
 
Wie gesagt, „Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein“, und so wurde aus der Bildung die Kompetenz, aus der Vermittlung von Wissenschaft deren Kommunikation und aus den souveränen Theorien der Physik das belanglose Geschwafel von Sozialwissenschaftlern darüber, wie es Habermas so gerne von sich gibt. Für den in deutscher Republik massenhaft geehrten Halbgott fällt „die wissenschaftlich erforschte Natur aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen heraus“, wie er schreiben kann, ohne daß jemand aufschreit. Für Habermas bleiben „die Erkenntnisse der Atomphysik … für sich genommen, ohne Folgen für die Interpretation unserer Lebenswelt“, wie er meint, um daraus den Schluß zu ziehen, daß die Kluft zwischen den beiden Kulturen „unvermeidlich“ bleibt. Das hätte Habermas zwar gerne, aber die Lebenswelt tut ihm den Gefallen schon lange nicht mehr, und so verwendet sie lustig und fidel Ausdrücke wie den unternehmerischen Quantensprung, mit dem man allerdings auch in einem Schwarzen Loch verschwinden kann, wenn man nicht vorher der Kälte der sozialen Entropie zum Opfer gefallen ist oder in einem Spannungsfeld zerrissen worden ist.
 
Warum sollen es Menschen eigentlich nicht genießen können, sich über das zu unterhalten, was an der Natur erforscht werden kann – die Quantensprünge zum Beispiel und die mit ihr mögliche Verschränkung der Wirklichkeit, die ihnen ein Ganzes ohne Teile beschert? Dabei hat der amerikanische Philosoph John Searle in seinem Buch über „Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ längst festgestellt, daß „zwei Eigenschaften unserer Auffassung der Wirklichkeit nicht zur Disposition“ stehen: „Für einen gebildeten Menschen unserer Zeit ist es unabdingbar, daß er über zwei Theorien unterrichtet ist: die Atomtheorie der Materie und die Evolutionstheorie der Biologie“. Beide sind natürlich keineswegs so beliebig konstruiert, wie sich Habermas und Adorno das vorstellen, weshalb sich ja die naturwissenschaftsfeindlichen Intellektuellen von dieser Anstrengung fernhalten, die zudem eine Herausforderung für den Common Sense ist, der da schon länger nicht mitkommt. Auf jeden Fall werden mit der Feststellung von Searle plötzlich sehr viele Menschen ungebildet, auch wenn sie sich anders sehen, und einige kritische Philosophen und ihrer Anhänger zählen unweigerlich dazu – auf jeden Fall bis zum Beweis des Gegenteils.
 
Bildung hat doch mit der Bereitschaft zum Dialog zu tun. Wer sie verwirft, erreicht nicht einmal die Halbbildung, die Adorno verachtet. Die Sozialphilosophen möchten nicht mit den Naturwissenschaften reden, sondern über sie richten und für sie entscheiden. Aber das wird nicht gehen. Ohne gegenseitige Anerkennung kann es keine Freiheit geben, wie die Herren wissen sollten. Bevor Adorno in seinen „Minima Moralia“ den berühmten Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ zu Papier bringt, spricht er von „einer lieblosen Nichtbeachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt“. Merkt dann niemand, daß der Theoretiker der Halbbildung genau das praktiziert, nämlich eine lieblose Nichtbeachtung der Dinge, die wie die  Halbleiter für die Menschen gemacht worden sind? Naturwissenschaften wird von und für Menschen gemacht, und wer deren Einsichten und Möglichkeiten so verachtet wie die soziologischen Halbgötter es tun, der zeigt nur, daß es kein richtiges Denken im falschen gibt. Würden die Halbgebildeten mehr über Halbleiter wissen und die Vorzüge des Umschaltens kennen, das sie so wertvoll macht, könnte die Welt so gut werden, wie es sich die Menschen erträumt haben, denen die Geburt der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert zu verdanken ist. Das „Asyl für Obdachlose“, von dem in den Minima Moralia die Rede ist, könnte dann zu einer Heimat für die wissenschaftliche Bildung ausgebaut werden. Dafür müßten die Halbgötter so werden wie Halbleiter. Wer von ihnen fängt mit diesem Bildungsauftrag an?
 
- Finis -
 
© 2023 Ernst Peter Fischer