Frühlings Zerbrechen

Das Aushalten von Widersprüchen ist im Spielplan ein Evergreen

von Max Christian Graeff

M.C. Graeff - Foto © Camillo Paravicini

Frühlings Zerbrechen
 
Das Aushalten von Widersprüchen ist im Spielplan ein Evergreen
 
Von Max Christian Graeff
 
Einige Kolumnenlesende scherzen darüber, daß meine Versuche unvergeudeter Gedankengänge oft bei den Gartenvögeln beginnen. Auch heute gibt es allen Grund dazu, denn nach der Nachrichtentour durch unentwegt graue Bilderreihen voller Stahl, Trümmer und Leichensäcke war ein Blick auf die balzenden, Baumaterial suchenden Immerfröhlichen dringend nötig. Sie agieren so verschieden, wie sie singen: Die einen tüdeln wahllos durch die frostige Auslage des Staudengestrüpps, andere sortieren schöne gerade Stöckchen auf der Mauer, um sie dann doch einfach dort zu vergessen. Sie alle bauen daran, daß es weitergeht – mit ihnen und mit uns; der Frühling erwacht, der Menschenwelt zum Trotz. Daran soll uns auch der zwölfte globale Klimastreik erinnern, der am 3. März (im Tal: 13 Uhr vorm Hbf) stattfand: Trotz der Ignoranz vieler Lobbyisten und Politiktreibender, trotz Handgreiflichkeiten von Privatpanzerfahrenden, trotz der rasant ansteigenden Zahl unvermeidbar am Zukunftsklima Sterbender arbeiten zahllose meist junge Menschen – in Talkshows als Alarmisten verhöhnt – am natürlichen Drang, überleben zu wollen. Egal, ob man selbst alles auch so tun würde: es geht darum, die völlig zerfetzte Situation inmitten von Weltverdruß, Bildungsmisere, boomender KI in Kunst und Krieg und eines durch die Waren- und Kulturwelt instrumentalisierten Greenwashings auszuhalten. Es gilt, das Aufwachsen einer von mächtigen Wänden aus Widersprüchen umstellten Meinung, die dem für immer beschwerten Alltag noch folgen mag, nicht vor der Zeit aufzugeben.

            Von unvergleichbaren, jedoch ebenso undurchschaubaren Widersprüchen, vom Aushalten und Nichtanpassen sowie vom lebenslangen Diskurs darüber handeln auch drei Romane von Karl Otto Mühl, der vor zwei Wochen hundert Jahre alt geworden wäre. Es geht darin um seine Jugend, sein Mitlaufen und Widerstreben in der sämtliche Sinne bedeckenden Zeit der Diktatur und des Krieges und um das Weiterleben und nie Vergessen. »Siebenschläfer« wurde 1975 sehr bekannt; »Nackte Hunde« und »Die alten Soldaten« erschienen erst 2005 und 2009 im NordPark-Verlag, im heutigen Literaturmarkt chancenlos und doch – gerade jetzt – so lesenswert und nötig. Mühl zog aus dem Leben in Widersprüchen die Konsequenz eines kräftigen, produktiven und unbeirrbar fragenden Lebens für das Theater und die Literatur, wobei er als Künstlerfigur stets bescheiden blieb. In seiner Zeit ging es nicht um Follower, Likes und Selbstbespeichelung. Auch vielen heute Jungen geht es nicht mehr darum. Nach dem pandemischen Loch lebt auch das Schultheater vielerorts wieder auf; vom 7. bis zum 14. Mai findet das »Junge Theaterfestival Wuppertal« im Haus der Jugend statt und bald darauf steht das Landes-Schultheatertreffen NRW »Maulheld*innen« vom 7. bis 10. Juni in Essen unter dem Motto »Wir! Hier! Jetzt!« und wird gewiß mehr als ein kollektiver jugendlicher Bick in den Spiegel. Dort entscheiden sich zahlreiche Lebenswege derer, die unsere zukünftige Kulturlandschaft bestimmen werden – sofern sie die Gegenwart noch aushalten. Wir haben ihnen alle im »fertigen« Leben aufzubringende Hoffnung zu geben, damit die Kunst von morgen kein Zucker in verstopften Arterien wird, sondern das Salz, das höllisch in den Wunden brennt.

            Der Frühling erwacht, den stählernen Nachrichten zum Trotz. Der Sommer, der folgt, wird möglicherweise grausam und heiß, wie wir Alten es zu lieben scheinen. Die Outdoorjacken sind vergiftet, eherne Parolen bröckeln; der Widerspruch ist allgegenwärtig. Wir müssen weiterlernen wie die junge Amsel für ihr erstes Nest, das, wenn es dem Wetter und den Heckenscheren trotzt, ein kleines Kunstwerk fürs Überleben wird. 
 
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© Max Christian Graeff