Hier wird nichts erklärt, nicht einmal versuchsweise.

„Saint Omer“ von Alice Diop

von Renate Wagner

Saint Omer
Frankreich 2022

Regie: Alice Diop
Mit: Kayije Kagame, Guslagie Malanda u.a.
Österreichisches Prädikat: Besonders wertvoll
 
Zuerst war da – Realität. Der Tod eines Kleinkindes, weggeschwemmt von der Flut im November 2013 an der französischen Küste bei Calais. Der Verdacht, daß die aus dem Senegal stammende Mutter, die 36-jährige Fabienne Kabou, das 15 Monate alte Kind absichtlich getötet hätte, verstärkte sich. Im Juni 2016 wurde ihr in Saint-Omer (Pas-de-Calais) der Prozeß gemacht. Sie wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Unter den Menschen, die diesen Prozeß vor Ort verfolgten, war Alice Diop (*1979), gleichfalls aus dem Senegal stammend, von Beruf Regisseurin und Drehbuchautorin. Bis sie den Fall Kabou in ihrem ersten Spielfilm „Saint Omer“ behandelte, hatte sie nur Dokumentarfilme gedreht, und auch dieser wirkt mit der Ruhe, mit der sie schier endlos im Gerichtssaal verbleibt, wie eine Dokumentation.
 
Sich selbst hat Alice Diop die Rolle der Literaturprofessorin Rama zugeteilt, die den Prozeß beobachtet und Rückschlüsse auf sich selbst zieht. Denn die Frau, die da so scheinbar unbewegt vor Gericht steht, hat mit ihr nicht nur die Hautfarbe und die Herkunft gemeinsam. Sie sind beide Intellektuelle, die Angeklagte ist eine Philosophiestudentin, die sich zum Erstaunen mancher ausgerechnet mit Ludwig Wittgenstein befaßt hat. Dessen „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, scheint auch über ihr zu schweben. Denn sie, die wie eine gebildete Frau kurze, prägnante Antworten gibt, sagt auf die Frage, was und warum es geschehen sei, immer wieder „Ich weiß es nicht.“ Und dabei bleibt es auch.
Nun hat die Angeklagte in der Realität auch mit ihrer scheinbaren Unbewegtheit und mit ihrem Nicht-Erklären der Tat das Gericht und die Zuschauer verwirrt, und so bleibt es auch in dem Film. Das macht ihn, so faszinierend er über weite Strecken ist, unbefriedigend – in der Kunst erwartet der Mensch Lösungen, „Poetic Justice“, das, was das wahre Leben durchaus schuldig bleibt. Aber hier wird eben nichts erklärt, nicht einmal versuchsweise.
Die Beobachterin Rama ist schwanger, sucht Antworten zum Phänomen Muttersein, findet auch die bei der Mutter der Angeklagten absolut keine Erklärung für das Geschehene. Die Regisseurin begibt sich nun auf den Irrweg des Medea-Stoffes (dazu gibt es sogar Szenen mit der Callas aus dem Pasolini-„Medea“-Film). Aber nein, kein einziges Motiv, das die antike Antiheldin trieb, trifft hier zu. Daß die Angeklagte „magische“ Elemente ansprach (als wäre ihr die Tat von unbekannten Mächten befohlen worden), kann man zweifellos als Finte einer intelligenten Frau nehmen. Was wirklich hinter dem Ganzen steckt – man weiß es nicht.
 
So bleibt der Film inhaltlich unbefriedigend, lebt aber von den beiden Frauen, Guslagie Malanda als Angeklagter und Kayije Kagame als im Grunde ähnlich mysteriöser Rama. Wobei auffällt, wenn man viele französische Filme sieht, wo die „autochthonen“ Franzosen ihre Sprache malträtieren wie viele deutsche Schauspieler die ihre, welch kristallklares Französch die Zuwanderinnen aus Afrika sprechen. Zumindest akustisch ist das bewundernswert.
 
 
Renate Wagner