Warschau, im Getto

Ein Weg mit Andrzej Szczypiorski

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Warschau, im Getto
 
Ein Weg mit Andrzej Szczypiorski
 
Von Michael Zeller
 
So scheu sie ist, die Wärme dieses Junimorgens – viel verspricht sie für den Tag: Warschau im Sommer. Wir treffen uns – wo sonst? – am Schloß. Es ist als letzter Bau der Altstadt von den Grundmauern hochgezogen worden, in den 1970er Jahren, mit einer bewundernswürdig handwerklichen Fertigkeit, von allem anderen zu schweigen.
 
Der weite, in sich leicht abfallende Platz davor ist auch jetzt schon, in dieser Frühe, von Touristengruppen überzogen. Andrzej Szczypiorski führt uns beide, Anne und mich, mit Bedacht durch eine der stilleren Gassen der Altstadt – und auch sie, wie alles hier, zerstört von Deutschen im Zweiten Weltkrieg, am liebsten dem Erdboden gleichgemacht, zur Strafe für den Aufstand der Warschauer Bevölkerung und der „Heimatarmee“ vom Herbst 1944 gegen die deutsche Besatzung.
Bereits Ende der 1940er Jahre begann der Wiederaufbau und war 1953 im wesentlichen abgeschlossen (das Königsschloß als bewußt offen gehaltene Wunde): in fünf Jahren das Zerstörungswerk der Deutschen von wenigen Tagen mühsam wieder, Stein für Stein, zurückgenommen.
 
Vorbei an der Jesuitenkirche, zeigt Andrzej Szczypiorski uns das Haus eines Freundes damals, aus der Kindheit, erklärt uns, daß die Haustür damals unter dem Erker gesessen habe, zwischen diesen beiden Fenstern, und nicht dort, wie heute, an der Ecke.
„Aber das ist nicht so wichtig, das sind Kleinigkeiten. . . “ Die eigene Kinderzeit scheint ihm näher zu sein als das, was er gerade vor Augen hat.
 
„Sein Vater war Arzt, sie bewohnten dieses ganze große Haus“.
 
Der Altstädter Marktplatz öffnet sich vor uns, in seiner Geschlossenheit ein Triumph über die Zerstörungswut von Menschen. Eher flüchtig schweift der Blick über das Geviert, findet nirgends den Halt der Erinnerung. Szczypiorski scheint sich nicht wohlzufühlen hier. Oder übertrage ich nur meine eigene Unruhe, die aus Zweifeln rührt an dieser Art allzu wörtlich genommener Vergangenheitstreue?
 
„Sehen Sie, hier – es fängt schon an zu … faulen, sagt man ‚faulen‘?“
Szczypiorski zeigt auf eine Mauerkante, von der der Putz herabrieselt. „Es ist ja nicht mehr ganz neu, es sind ja auch schon wieder fünfunddreißig Jahre her“ - ich spüre, daß ihn das durchaus beruhigt.
 
„Wer wohnt hier, in diesen . . . Häusern?“, fragt Anne.
 
„Früher, nach dem Krieg, da haben Künstler hier gelebt. Schriftsteller, Maler, Schauspieler – jetzt nicht mehr. Das ist lange vorbei “. Der Mietzins dieser Häuser sei übrigens nach wie vor niedrig, denn der Staat sei der Besitzer der Wohnungen, nicht die Stadt. „Vor zwanzig Jahren – wie gerne hätte ich damals hier gewohnt! Da lebte ich mit meiner Familie in einer engen Mietwohnung in einem dieser häßlichen Hochhäuser, ganz schrecklich“.
 
Heute habe die Wohnlage hier keinen Reiz mehr für ihn – er sei zufrieden mit seinem Haus am Stadtrand, mit einem Garten, „einem Gärtchen eigentlich nur“, und groß genug jedenfalls für seine sechs Hunde und neun Katzen, „nein: zehn. Heute Morgen kam die zehnte auf die Welt“, und er zeigt uns ihre Größe mit der Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger. Übrigens: jeder seiner sechs Hunde sei zugelaufen, keiner von ihnen edlen Geblüts – alles reichlich bunt gemischte Köter.
 
Wir gehen durch die Barbakane, ein ins Runde gebautes Wehrtor aus rotem Backstein.
„Für meinen Sohn und für meinen Enkel – da ist das ganz normal, diese Altstadt hier. Aber für mich: für mich ist es – entschuldigen Sie - eine Theaterkulisse …“
 
Es kommt ihm nicht leicht von den Lippen, dieses Wort, ist beiläufig gesprochen, zum Überhören. Das robuste Schanzwerk des späten Mittelalters, jetzt mit allerlei Kunsthandwerkläden bestückt, entläßt uns in die breite Straßenführung der sogenannten Neuen Welt – die Großzügigkeit, die Weite barocker Stadtplanung, die sich nicht mehr einigeln muß, hineinducken in sich selbst, um geschützt zu sein nach außen – sie läßt unsere Blicke freier gehen. Szczypiorski atmet förmlich auf, bleibt stehen, schaut um sich.
 
„ Dieser Teil …. ja, hier fühle ich mich wohler. Ist nicht so eng, hat Weite …“, und fährt entsprechend mit den Armen durch die Luft, um seine Freiheit körperlich auszuprobieren und zu genießen. Geht sehr lebhaft auf ein Eckhaus zu, schaut die Straße hinab, deren Kopfsteinpflaster sacht zur Weichsel fällt.
 
„Da gerate ich wieder in einen frühen Teil meines Lebens“. Szczypiorski dreht sich uns entgegen und lacht. „Hier, an dieser Stelle, habe ich hinter der Barrikade gelegen, im August 1944, während des Warschauer Aufstandes, nein, nicht hinter ihr, auf ihr bin ich gelegen mit meinem Karabiner – eine Woche vielleicht, nein, sechs Tage, oder acht. Hier oben hatten wir Aufständischen die zweite Barrikade errichtet, und da unten, wo jetzt das Auto fährt – nein, warten Sie, noch nicht – jetzt, ja, genau jetzt: Dort lagen die Deutschen. Und danach kam ich auf eine Sanitätsstation, hinter dieser Kirche, und dort bin ich dann verhaftet worden, am 1. September 1944. Sie haben uns Gefangenen nach Deutschland gebracht, nach Sachsenhausen, in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Und dort, im KZ, habe ich mein Deutsch gelernt – ein bißchen, nicht sehr viel. . .“
 
Dialektik der Geschichte, oder soll man das ihren Irrwitz nennen? Heute ist Szczypiorski, dank der Sprachlektionen im KZ, ein kaum zu ersetzender Eckpfeiler des deutsch-polnischen Gesprächs.
 
Erst später erfahre ich, daß hier, in diesen umkämpften Straßen, der deutsche Dichter Ernst Theodor Amadeus Hoffmann lebte, als er seine Dienstjahre in Warschau verbrachte, 1804 bis 1806, als preußischer Beamter. Das Palais, in dem er wohnte, ist stehengeblieben – reich geschmückt die spätbarocke Fassade, mit korinthischen Pilastern ins Breite gestreckt, feine Zeichnung der Architektur. Wenn er zur Straße wohnte, hätte er auf die Barrikaden herabschauen können, auch auf Szczypiorski, den polnischen Kollegen ein Weilchen später, wie er seine Stadt verteidigte gegen fremde Angreifer, Hoffmanns Landsleute. Unstrittig für mich, wo Hoffmanns Sympathien gelegen, für welche Sache sein Herz geschlagen hätte.
 
Es schmerzt mich, als ich zu später Nacht allein vor dem Haus Nr. 5 in der ulica Freta stehe, daß dort kein Schild angebracht ist, an den Dichter E.T.A. Hoffmann zu erinnern, der hier lebte – nicht nur ein Dichter von europäischem Rang, sondern auch ein deutscher Literat mit einer politischen Moral, wie ich kaum einen zweiten hierzulande kenne. Was tun denn eigentlich die Kulturattachés in ihren Botschaftspalästen den lieben langen Tag, wenn sie sich solch einen Anlaß entgehen lassen? Die deutschen Bomben haben Warschau ja nun kenntlich genug gezeichnet – warum dann nicht auch – oh nein: nicht als Gegenrechnung! – ein Hinweis auf diesen deutsch-europäischen Dichter? Gegenüber den tatfreudigen Heerführern und Politikern und ihrer Gefolgschaft sind wir, die Internationale der Künstler, immer in der Minderheit, und schon deshalb darf keiner von uns vergessen sein.
 
Vorbei am Geburtshaus der Physikerin Madame Curie, jetzt ein Museum.
„Wußtest du, daß sie eine Polin war?“ frage ich Anne erstaunt. Szczypiorski macht eine ziemlich abfälligen Handbewegung zu der Curie. „Sie war kein angenehmer Mensch“. Pause. Wir warten. Ich weiß nur, daß sie irgendwann mal den Nobelpreis bekommen hat – für irgendwas.
 
„Sie hat ihren Mann behandelt . . . wie ein Lakai – kann man so sagen?“
Auch Abneigung macht lebendig. Szczypiorski hat seine Nervosität des Morgens abgelegt.
 
„Es ist viel Grün hier, sehen Sie, hinter den Häusern, in den Höfen. Es ist schöner als es früher war. Vor dem Krieg stand hier Haus an Haus, eng auf eng, und kein Licht und keine Pflanze. Die Architekten, die damals die Straßen wieder aufbauten, sagten: Die Menschen sollen es besser haben, das ist jetzt eine andere Zeit“.
 
Von der Marienkirche aus Backstein schauen wir die Böschung hinab zur Weichsel – ein Park mit dichtem Baumwuchs, die Uferstraße. Kein Haus weit und breit.
„Dort wohnten die Ärmsten der Armen, dort unten, Fischer, vor allem auch die Juden. Hier überall lebten Juden. Mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung in dieser Gegend, glaube ich. Warschau hatte vor dem Krieg dreihundertfünfzig Tausend Juden, bei anderthalb Millionen Einwohnern, stellen Sie sich das vor“.
„Und heute?“ fragt Anne.
„Zweitausend vielleicht“.
„Haben Sie Kontakt mit der jüdischen Gemeinde hier?“
„Oh ja, selbstverständlich, ich bin Vorsitzender der polnisch-israelitischen Gesellschaft, natürlich treffe ich die Menschen, aber sie sind alt, sehr alt. Und hier, wo Sie jetzt die Straße überqueren, da war die Gettomauer. Die haben die deutschen Besatzer 1940 errichtet, und dann, ein Jahr später, zugesperrt. Es gab Zeiten, da lebten eine Millionen Menschen in diesem Getto, nicht nur die Warschauer Juden natürlich. Später kamen sie auch aus aus ganz Zentralpolen, den Niederlanden, aus Frankreich …“
 
Wir gehen durch das Getto. Wohnblock reiht sich an Wohnblock, 1960er, siebziger Jahre. Keine Spuren mehr von früher.
 
„Laut und lebendig und dreckig … ein lärmendes Hin und Her der Chassiden, in ihren Arbeitskitteln, mit Mützen aus Wachstuch, Läden für Eisenwaren, das Geschrei der Händler, das Schnauben der Pferde, die Vitrinen der armseligen Putzmacher, vollkommen verstaubt, Modes stand auf den Vitrinen, oder Dernier cri , und Obstläden, Konditoreien, Friseure, Metzger, natürlich koscher, dazwischen die Straßenverkäufer in Drillichhosen mit ihren Brezelkörben, und dann, hier, in dieser Straße: die jüdischen Kinos, ich kannte sie alle, die Tingeltangel, eins neben dem anderen. Ja, hier war das jüdische Nachtleben, keine sehr elegante Straße, und die Mädchen, die an die Mauern gelehnt dastanden und lockten und warteten . . . ", kommt Szczypiorski ins Plaudern und schmunzelt zu Anne herüber. Mehr verrät er aus Höflichkeit nicht.
 
Nicht weit davon entfernt ein Park. Die Rückenansicht eines monumentalen Denkmals, hoch und glatt wie eine Hausfassade, anthrazitfarbenes Dunkel – sofort erkenne ich es wieder, nach den Fernsehbildern von vor mehr als zwanzig Jahren, ein Bild, das Epoche machte: Willy Brandt kniet als deutscher Kanzler davor, im schwarzen Mantel, mit versteinertem Gesicht, ein Knien, das mir jungem Mann damals aus der Seele sprach wie nichts davor und danach von der Generation der Väter: das Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Getto, der 1943 drei Wochen dauerte. Ohne daß ich überlege, ziehen sich die Hände, beim Schlendern in die Hosentaschen geraten, heraus, hängen herab, geben mir Haltung vor. Es tut mir wohl, daß zwischen den Mord an jüdischen Menschen von deutscher Hand, an den hier gedacht wird, der Kniefall dieses deutschen Kanzlers dazwischentritt, dem ich mich näher fühle – und ist ja bereits schon seinerseits Geschichte, auch eigene Geschichte.
 
Wir kommen auf Willy Brandt zu sprechen, sein Sterben. Als Brandt zur zweiten Operation in die Klinik kam, hätten Fernsehjournalisten bei ihm hier in Warschau angerufen, erzählt Szczypiorski, und ihn um eine Stellungnahme zu diesem deutschen Politiker gebeten, „wie einen Nachruf“. Er habe zugesagt, höflich wie er sei, sich aber noch etwas Zeit erbeten: Man solle doch bitte dem Leben seine Fristen gönnen –
„Journalisten . . . “ Szczypiorski hebt die Achseln und lächelt flach.
„Sie waren doch selbst einmal Journalist“, erinnert ihn Anne.
„Sünden der Jugend, na ja, Sie haben recht. Es ist ja auch kein einfacher Beruf . . .“
 
Zwischen den Wohnblocks ein Hügel, von Wiese überzogen, Stufen führen hinauf.
„Das ist der Bunker, an dem der Aufstand des Gettos zu Ende ging, im Mai 43. Anielewicz, einer der Anführer, hat sich hier, an diesem Bunker, umgebracht mit zwanzig seiner Leute. Der zweite Führer des Aufstandes, Edelmann, lebt noch, in Warschau, ein alter Mann, er war Arzt gewesen. Er ist heute ein unerbittlicher Gegner des Staates Israel. Er bestreitet den Israelis, daß sie Juden seien. Die Juden seien alle umgekommen unter Hitler, meint Edelmann, und er sei der letzte von ihnen“.
 
Wir kommen an dem Hochhaus vorbei, grün verglast, in dem die Wochenzeitschrift „Polityka“ ihren Redaktionssitz hat. „Sie haben eben meinen Journalismus erwähnt“, beugt sich Szczypiorski zu Anne herüber. „Für Polityka habe ich vor zwanzig Jahren – oder ist es schon länger her …? - jedenfalls habe ich für sie Fernsehkritiken geschrieben. Der Chefredakteur hieß damals Rakowski. Sagt Ihnen der Name was? Er war unter Jaruzelski Regierungschef und der letzte Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Polens, vor dem Sturz von 1989“.
„Und was treibt er heute?“, will ich wissen.
„Nichts. Er ist Rentner. Nebenbei leitet er eine Zeitschrift, sie heißt ‚Heute‘, ein linkes Blatt, aber viel zu theoretisch. Auch Jaruzelski geht es gut. Vor ein paar Tagen haben wir zusammen in einer Warschauer Buchhandlung unsere Bücher signiert. Ihm geht es ganz gut . . .“
 
Unterdessen sind wir an die letzte Station unseres Wegs durch das ehemalige Getto Warschaus gekommen, von dem keine Spuren mehr da sind außer freien Flächen und Denkmalen und Ruinenresten. Ein Karree in weißem Marmor als Erinnerung an den ehemaligen „Umschlagplatz“ – das Wort allein schon zum Erschauern. Von diesem Punkt fuhren die Züge ab, die die Insassen des Warschauer Gettos in die Vernichtungslager brachten, der „Endlösung“ entgegen.
 
Ein Vers des Buches Hiob ist in den Marmor eingemeißelt – Mein Blut tränkt die Erde, damit mein Schrei nicht unerhört bleibe -, dazu, statt der Namen der unzählbaren Opfer, alle Vornamen, von Männern und Frauen, die die jüdische Sprache kennt.
 
Es habe erregte Diskussionen gegeben in Warschau nach dem Krieg, auch mit den übriggebliebenen Juden, erinnert Szczypiorski sich am „Umschlagplatz“. Viele seien der Meinung gewesen, man dürfe auf diese Erde nie mehr etwas bauen, müsse sie wüst und leer lassen, für immer.
„Aber jetzt die Wohnungen, überall Wohnungen hier: die Menschen brauchen eine Unterkunft! Was kann Schlechtes daran sein? Und hätte denn Hitler nicht noch recht bekommen, der Warschau von der Landkarte löschen wollte? Die Geschichte hat viele Seiten und Gesichter, und so wichtig sie ist, für das Leben von uns allen: Zu wichtig darf man sie auch nicht nehmen, nicht wichtiger jedenfalls als das Leben selbst“.
 
Wo sind die drei Stunden geblieben, fragen wir uns, als wir wieder auf dem Schloßplatz stehen, von dem wir doch eben gerade erst weggegangen waren? Die Sonne hat unterdessen ihren eigenen Weg genommen – ja, es ist wirklich ordentlich warm geworden in der Stadt. Wir strecken unsere Beine in einem Straßen-Café aus, Blick auf die Sigmundsäule und die „Krakauer Vorstadt“ entlang mit ihrer Flucht von Palästen. Szczypiorski bestellt für uns alle drei eine penetrant süße Limonade, die er jedenfalls mit großem Behagen trinkt.
„Ja, wissen Sie: die spöttische Anekdote, die Gott der Welt erzählt und die Polen heißt ….“.
„Zitat?“ frage ich.
Er knipst mir ein Auge, lächelt, schweigt.
 
Polen heute. Skepsis mit Humor versetzt – oder umgekehrt: mehr Humor als Zweifel? Es gäbe viele Landsleute, behauptet Szczypiorski, die meinten, ohne Regierung könne Polen sich am besten entwickeln, auf Europa zu. Warum brauche man denn überhaupt eine Regierung? In Polen jedenfalls . . . und sein Grinsen verrät, daß er selbst diesen von ihm angeführten Landsleuten wohl nicht allzu ferne steht, wenn nicht gar - Das tiefe Mißtrauen jedes Polen gegenüber der Politik, nein: den Politikern: dieser Berufsstand habe während des Kommunismus jeden, aber auch jeden Kredit verspielt. Das Mißtrauen sitze so tief, es habe sich fast zu einem Instinkt bei den Menschen hier verfestigt. Und was danach geschehen sei, nach 1989 . . .
 
Szczypiorskis Hände weggestreckt auf das Gestänge des Bistrostuhls, greifen manchmal in die Luft, kneten ein Wort: So erzählt er uns von seiner Reise nach Deutschland, im Troß des Präsidenten Walesa, vom März 1992. Er habe Walesa seinerzeit vor der Wahl bekämpft, sei gegen ihn gewesen wie die meisten Intellektuellen Polens. Aber er sei Demokrat, und so akzeptierte er seinen Wahlsieg, und als Walesa ihn einlud, ihn nach Deutschland zu begleiten: Mit welcher Begründung hätte er da absagen können? Keine Sekunde habe er daran gedacht.
Wenn er Polen dienen könne, wolle er das gerne tun. Schließlich sei er deshalb ja auch zweieinhalb Jahre lang im Sejm gesessen, als Senator, und habe sich fürchterlich gelangweilt dabei – denn Politiker seien doch ziemlich langweilige Leute … „oberflächlich und langweilig, für unsereinen jedenfalls“.
 
Nach ihrer Rückkehr aus Deutschland sei Walesa von der polnischen Presse scharf angegriffen worden. Gut, er habe einige Fehler begangen, aber im Ganzen sei die Reise doch ein Erfolg gewesen für Polen. Deshalb habe er Walesa auch öffentlich verteidigt, die Pressekonferenz danach in Warschau hätten sie zu zweit abgehalten, und er, Szczypiorski, habe dabei den Journalisten Provinzialismus vorgeworfen.
 
„Walesa war ganz erleichtert darüber, glauben Sie mir, und ein paar Tage später rief er mich an und lud mich zu einem Frühstück zu sich im Belweder ein. Welchen Grund hätte ich gehabt nicht hinzugehen, wenn der Präsident mich ruft? Wir haben gut gefrühstückt und geplaudert dabei, und dann sagte Walesa auf einmal zu mir – so ein spontaner, impulsiver Mann ist er, sehen Sie: Herr Szczypiorski, sagt er, wollen Sie nicht zu mir kommen und meine Kanzlei übernehmen? Ich habe ihn groß angeschaut, ich war wirklich vollkommen entgeistet – sagt man so?
 
Wissen Sie denn nicht, Herr Präsident, was ich mache, frage ich ihn. Ich bin Schriftsteller, ich schreibe Bücher . . . Wie kann ich da . . .
 
Walesa war eingeschnappt. Er hielt das für eine Ablehnung seiner Person. ‚Ich weiß, daß Sie Schriftsteller sind, Herr Szczypiorski, aber wenn Polen es verlangt, dann muß man seine Pflicht tun.‘ Er war wirklich ganz beleidigt. Aber, Herr Präsident, ich glaube, ich habe auch mit meinen Büchern Polen geholfen, und ich möchte es weiter tun.
 
‚Ach, Bücher‘, sagte Walesa, und er gab dann auf, aber ich sah in seinem Gesicht den Zweifel, das Unverständnis, daß man mit Büchern etwas für sein Land leisten könne“.
 
„Das hat wenig mit Walesa zu tun oder mit Polen, fürchte ich“, sagt Anne. „Nennen Sie mir einen Politiker auf der Welt, der dafür Verständnis hätte, oder nur ein Gespür“.
 
„Eben, und deshalb müssen wir weiterschreiben“. Und Szczypiorski reibt sich die Hände dabei.
 
Die Begegnung fand im Juni 1992 statt.
 
Abgedruckt in: DIE WELT vom 24.Juli 1993,
unter dem Titel „Durch die Straßen eines Lebens“

Unveränderte Wiedergabe in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.