Eine Perle deutscher Chanson- und Brettl-Kunst

Erwin Grosche / Gerhard Gemke – „Der dünne Mann“

von Frank Becker

Illustration: Hans Christian Rüngeler
Eine Perle deutscher
Chanson- und Brettl-Kunst
 
Vom Totenvogel, von Apfelkuchen und Schokoladentorte
 
Ach, wär ich doch woanders,
ein starker Wille kann das,
woanders, wo was Wildes wächst,
woanders, wo wer Wunder weiß.
 
Erwin Grosches eigenwillige, philosophische, gelegentlich sonderbar bizarr anmutende Texte von Hüsch-Format sind in keiner Schublade zu finden und erst recht in keine zu stecken. Sie sind Ausdruck tiefer Befindlichkeiten, einzigartiger Erkenntnisse, sie brechen seelische Kapseln auf, lösen Denkprozesse aus, sind alltagsklug und schenken sehr häufig ein Lächeln - ein feines, notabene.
Nun hat Erwin Grosche aus dem großen Schatz einiger seiner durch Bühnenprogramme und Bücher bewährten und etlichen neuen, oft skurrilen Dichtungen eine wunderbare Auswahl von 16 Stücken getroffen (das 17. Ich habe vor ist von dem verehrten Christof Stählin). Die hat er in dem Komponisten Gerhard Gemke vertrauensvoll zur Vertonung in die Hände gelegt und ist mit kongenialen Melodien und Arrangements belohnt worden. Zwei Gesangs-Solistinnen (Mylène Kroon, Lisa Grosche), zwei Vokal-Ensembles (Zucchini Sistaz, Anis oder Mandel) und an den Instrumenten Gerhard Gemke (Komposition, Klavier, Flöte), Yukinobu Ishikawa (Percussion, Vibraphon), Jana Telgenbüscher (Violoncello) und Erwin Grosche selbst (Gesang, Kinderklavier, Kinderakkordeon) haben aus den 17 Liedern eine wunderbare, berührende CD voller herrlicher Genüsse für Ohr und Gemüt gemacht, die wie die Texte in keine Schublade paßt.
 
Schon die Eröffnung mit dem Choral vom Ach, den Text sehen sie oben rechts eingerückt, katapultiert den Hörer in die Wunderwelt von Erwin Grosches Gedanken. Gewaltig bringen die Sopranistin Mylène Kroon und das kleine Kammerensemble anschließend das Faß zum Überlaufen, wozu man lediglich eine Kinderträne, einen Tropfen Spucke braucht. Die Nutzen eines Hörgeräts werden besungen, und nach der Totenglocke sowie einer völlig abgedrehten Begegnung mit dem titelgebenden Dünnen Mann, der für Freund Hein steht, pfeift Lisa Grosche drauf, genauso den Tod im Blick wie danach Erwin Grosche in Frühling, Sommer, Herz und Winter. Es wird nicht das letzte fröhliche memento mori sein, das uns hier begegnet. In Hautunreinheiten leckt Grosche mit köstlichem Swing vom Vibraphon seine Wunden, um gleich darauf, nach einem Piano-Intermezzo (Karoline) in einem Choral mit den Sängerinnen einem Kleinen Hund Reverenz zu erweisen. Die Zucchini Sistaz singen in schönster Harmonie vom kontemplativen Fegen in großen Räumen, doch dem Totenvogel können wir nicht ausweichen:
 
Totenvogel
 
Der Totenvogel auf dem Dach/
der hält die ganze Straße wach/
Er kräht Kräh Kräh und macht Kruh Kruh/
und keiner kriegt ein Auge zu//
 
Der Totenvogel auf dem Dach/
der lockt dich an und macht dich schwach/
und du erinnerst dich daran,/
dass man nicht ewig leben kann//
 
Der Totenvogel auf dem Dach/
den sieht man an und denkt nur „Ach.“/
Wer dir den ganzen Tag verdirbt/
der weiß ganz sicher, dass man stirbt//
 
Der Totenvogel auf dem Dach/
der drängt zur Eile: „Komm schon, mach!“/
So isst man schnell ein Butterbrot/
und ist nach einem Rülpser tot.//
 
Grosche-Kenner wissen um seine große Leidenschaft für Weyhers Apfelkuchen, den er oft und gerne besungen hat. Hier erklingt eine berührende A-cappella-Hymne, klangvoll vom Ensemble Anis oder Mandel zu Gehör gebracht. Daß er auch für Schokoladentorte etwas übrig hat, ist seit dem Film „Der Tortentester“ bekannt. Seine Tochter, die Schauspielerin Lisa Grosche, bringt das zu Gehör. Nach einer Tour de force über einen ver-rückten Arbeitskollegen (gesungen von Mylène Kroon) rundet ein veritables Heimatlied des überzeugten Paderborners diese Perle deutscher Chanson- und Brettl-Kunst, das Stadtlied mit der Anfangszeile „Wenn die Sonne aufgeht über der Stute-Fabrik“.
 
Daß die einzigartige Produktion vom Bestattungshaus Dieter Sauerbier unterstützt und gefördert wurde, scheint angesichts der Thematik nur logisch. Daß das Album unsere besondere Auszeichnung, dem Musenkuß mit Sternchen* bekommt und sehr empfohlen wird, ist seiner außergewöhnlich hohen Qualität zuzuschreiben.
 
Die CD erscheint im April 2023 in einer Auflage von nur 1.000 Stück im Verlag „Akademie der Abenteuer“ in Berlin. Da heißt es schnell zugreifen. Im von Oliver Kleine gestalteten Begleitheftchen findet man fast alle Texte, wenn auch nicht in chronologischer Folge.
 
Erwin Grosche / Gerhard Gemke – „Der dünne Mann“
Lieder von Ankunft und Abschied
© 2023 Verlag Akademie der Abenteuer / musikbetrieb (CD) - ISBN 978-3-98530-131-7
 
Mit: Erwin Grosche (Text, Gesang, Kinderklavier, Kinderakkordeon) – Gerhard Gemke (Komposition, Klavier, Flöte) – Mylène Kroon (Gesang) – Lisa Grosche (Gesang) – Zucchini Sistaz (Gesang) – Anis oder Mandel (Gesang) – Yukinobu Ishikawa (Percussion, Vibraphon) – Jana Telgenbüscher (Violoncello)
Titel:
1. Choral vom Ach – 2. Faß (Überlauftext) – 3. Hörgerät – 4. Der dünne Mann – 5. Ratschläge – 6. Frühling, Sommer, Herz und Winter – 7. Hautunreinheiten – 8. Karoline – 9. Kleiner Hund – 10. Vom Fegen in großen Räumen – 11. Totenvogel – 12. Weyhers Apfelkuchen Hymne – 13. Der Hintergrund – 14. Die Schokoladentorte – 15. Ich habe vor – 16. (Von einem Arbeitskollegen) – 17. Stadtlied (Wenn die Sonne aufgeht)
Gesamtzeit: 46:24