Willis Irrtum

Eine Erzählung

von Hermann Schulz
Willis Irrtum

Danny brauchte Geld fürs Kino, hin und wieder ein schickes Oberhemd und seine eher bescheidenen Abenteuer. Den Geruch von Teer und Rohöl hat er sein ganzes Leben lang in der Nase. Das hatte mit seiner Arbeit während der Ferien auf dem Straßenbau zu tun. Begüterte Eltern, die ihren Kindern soviel Geld zusteckten, daß sie wie Provinzplayboys leben konnten, waren damals, in den 50er Jahren, seltener als heute.

Straßenbau war in jener Zeit ein mühsames Geschäft. Maschinen kamen kaum zum Einsatz, Schippe und Hacke bildeten die Gerätschaften der Arbeiter. Abends waren die Arbeiter völlig erledigt und stanken wie Pech und Schwefel. Die Kolonnen beneideten den Vorgesetzten, den Polier, der die Aufsicht führte und selten selbst mit anpacken mußte.
Danny verstand sich ziemlich gut mit den Arbeitern, denn sie kannten ihn inzwischen als bescheidenen Oberschüler ohne Dünkel. „Studiosus“ nannten sie ihn neckisch; ihn störte es nicht, ja er fühlte sich sogar ein wenig geschmeichelt.

Der stärkste Arbeiter in seiner Kolonne war Willi. Er überragte an Körpergröße und Kraft die anderen, obwohl er wie Danny erst sechzehn Jahre alt war. Alle nannten ihn den Dollen Willi. Die Herkunft des Spitznamens mußte niemand lange erklären: Willi war nicht besonders klug. Schon das ist untertrieben, denn Willi war das, was manche „einfach gestrickt“ nennen, dazu von ungewöhnlich einfältigem Gemüt. Ihn störte nicht einmal, dass man ihn den Dollen Willi nannte, vermutlich war er schon in der Hilfsschule ähnlich genannt worden. Er hielt mit allen Arbeitskollegen Frieden, ganz gleich wie sie ihn nannten oder was sie mit ihm anstellten.

Mit zweifelhaftem Vergnügen trieben die Arbeiter noch andere Scherze mit ihm, fragten ihn alles mögliche aus seinem Leben und amüsierten sich über seine Antworten, die ihrem Bild von Willis Leben kuriose Akzente setzte. Zum Beispiel wollten sie einmal wissen, wie er denn seine Wochenenden verbringe. Willi gab bereitwillig Auskunft. Er lebe allein, seine Eltern wollten nichts mehr von ihm wissen. Er gehe ins Kino, weil sein Zimmer nicht geheizt sei und ein Klo gäbe es auch nicht. Er ginge in alle Vorstellungen hintereinander, blieb von Beginn um zwei Uhr an bis Mitternacht sitzen. Es sei ihm egal, welcher Film im Kino laufe, das meiste verstehe er sowieso nicht. Aber da sei es wenigstens warm!
Willi machte eine Pause.
„Als mein kleiner Bruder noch bei mir war, da hatten wir ein Zimmer mit Heizung und Klo. Aber den haben die mir weggenommen, die Schweine!“
„Wo ist dein Bruder jetzt?“, fragte Danny.
„In einem Heim für solche Kinder. Ich hab die Adresse nicht.“

Von einem Kollegen wußte Danny, daß Willis Herkunft nicht ganz astrein sei; er sei schon unter finsteren Bedingungen geboren worden. Was das bedeutete, hatte er nie erfahren. Ihm tat Willi leid. Er nannte ihn auch nicht wie alle anderen Dollen Willi. Trotzdem gibt es keinen Grund, Danny als besonders anständig herausstreichen, denn wenn es darum ging, ihm eine harte oder schwierige Arbeit aufzuhalsen, war er nicht selten beteiligt. Ob Willi Dannys Zurückhaltung bei der Benutzung seines verletzenden Spitznamens durch eine Art von Zuneigung honorierte oder ihn mochte, weil sie gleichaltrig waren, wußte niemand. Eine gewisse Sympathie für ihn muß jedenfalls vorhanden gewesen sein, denn er versuchte hin und wieder, Danny von seinen Butterbroten etwas abzugeben. Das wies der immer entsetzt zurück, denn meistens war der grünliche Schimmel an dem Brot schon von weitem zu sehen.

„Dollen Willi, du kannst das!“ Wenn alle johlten, dann griff Willi die Schaufel ganz unten und legte los, bis der Schweiß in Strömen lief und die Arbeit, die für drei erwachsene Männer  gereicht hätte, von ihm in kürzester Zeit allein bewältigt worden war. Daraufhin wurde er als Held gefeiert und alle klopften ihm auf die Schultern. Er nahm solche eher fragwürdigen Belobigungen mit einfältigem Grinsen entgegen.
Nein, Danny hatte keinen Grund, sich unschuldig zu fühlen. An der folgenden Geschichte, die im Spätsommer auf ihrer Baustelle passierte und Willis Arbeiterkarriere erst einmal ein Ende setzte, war er sogar maßgeblich beteiligt.

Der Polier hatte ihn beauftragt, kurz vor Feierabend gemeinsam mit Willi entlang der Baustelle die dreißig gußeisernen Warnlampen aufzuhängen. Danny gab Willi die meisten der schweren Geräte und bedeutete ihm, am oberen Ende anzufangen; er würde hier unten beginnen, dann träfen sie sich ungefähr auf der Mitte und hätten so das gleiche Pensum zu erledigen. Daran erinnerte er sich später nicht gern.
Willi nahm bereitwillig seine schwere Last und trottete los. Danny versorgte die vorgesehenen Abgrenzungsstäbe am Anfang, da wo der Bauwagen stand. Willis große Gestalt sah er weit oben an der Straße deutlich in der Abendsonne. Er begann, seine Lampen aufzuhängen.
Danny war schnell fertig mit seinem Teil und sah seinem großen Kollegen zufrieden aus der Ferne zu.
Ein Fahrradfahrer tauchte auf. Der Mann fuhr sein Rad ein wenig schwankend, so als sei er angetrunken. Danny und einige der Arbeiter, die bereits ihre Sachen packten, wurden Augenzeuge des Zwischenfalls. Der Radfahrer streifte mit seinem Lenker Willis Arm, kam aus dem Gleichgewicht und fiel auf die Straße. Willi richtete sich auf, legte langsam seine restlichen Lampen beiseite und sah sich auf dem Boden um. Danny konnte zuerst nicht erkennen, was er suchte. Als er schließlich sah, dass Willi plötzlich einen Ziegelstein in der Hand hielt, war es zu spät, einzugreifen. Mit ruhigen Bewegungen ging Willi auf den  Mann zu, der sich gerade taumelnd aufrichten wollte, und schlug ihm den Stein kräftig auf den Kopf. Der Mann fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Danny schrie nach dem Polier, rannte in die nächstliegende Gaststätte, um telefonisch einen Krankenwagen zu rufen, er stammelte aufgeregt in den Hörer. Kaum fünf Minuten später war schon die Ambulanz da, die Polizei kam sogleich mit.
Der Polier versuchte, Willi zu den Polizisten zu bringen, redete beruhigend auf ihn ein. Aber Willi sträubte sich und schrie herum, der Mann habe ihn zuerst angerempelt, er habe sich nur wehren wollen und nichts Schlimmes getan. Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht und Sirenen davon.
Mehrere Arbeiter versuchten gemeinsam, Willi zu bändigen. Einer der Polizisten fuchtelte sogar mit seiner Pistole herum. Aber Willi heulte und schlug um sich. Danny wandte sich an den Polier.
„Laß mich mit ihm reden,“ sagte er, „auf mich hört er.“

Tatsächlich beruhigte er sich sofort, als Danny sich näherte und ihn freundlich wie immer ansprach. Er ließ sich von Danny willig und ohne Sträuben in den Polizei-Opel verfrachten.
„Es ist besser, du fährst mit,“ sagte der Polier zu ihm, „sonst passiert noch ein Unglück unterwegs.“
Sie stiegen ein. Willis Kopf reichte bis an die Decke des Personenwagens. Danny saß neben ihm und hielt, weil Willi immer noch vor sich hin weinte, seine linke riesige Hand. Auf der anderen Seite saß der Polizist, er war mit dem Gefangenen durch Handschellen verbunden. Willi sagte unter Tränen, er habe es ja nicht extra getan und nichts Schlimmes machen wollen.
„Du hast den Mann mit einem Ziegelstein totgeschlagen,“ sagte der Polizist.
Danny flüsterte Willi zu: „Wahrscheinlich ist er gar nicht tot, sondern nur besinnungslos, der besoffene Blödmann!“ Willi lächelte ihn dankbar an.
„Ich bin sicher, er hat nur einen kleinen Kratzer,“ fuhr Danny fort. „Mach dir keine Sorgen, Willi! Die lassen dich bald wieder laufen. Wirklich!“
Da wandte Willi sein Gesicht Danny zu und sagte mit großem Zutrauen in den feuchten Augen und
seiner unverwechselbaren langsamen Art:
„Wenn dir mal einer was tut, dann schlag ich den kaputt! Kannste dich drauf verlassen!“
Danny mußte sich anstrengen, seine eigenen Tränen hinunterzuschlucken.

„Egal, was sie mit dir machen, Willi“, flüsterte er. „Ich hole dich da raus!“ Er schluckte noch einmal und sagte dann: „Und deinen kleinen Bruder. Den finden wir auch wieder. Verlaß dich drauf!“



© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern