Alle Jahre wieder

Gewerkschaften fordern Vier-Tage-Woche

von Lothar Leuschen​

Foto © Anna Schwartz
Alle Jahre wieder
 
Gewerkschaften fordern Vier-Tage-Woche
 
Von Lothar Leuschen
 
Pünktlich zum Tag der Arbeit sind die Rituale wieder da. Berlin mußte sich wegen ein paar Dutzend Chaoten auf eine Randalenacht vorbereiten. Politik und Gewerkschaften überbieten sich mit Forderungen und Weisheiten.
 
Aus dem politisch konservativen Raum ertönt der Ruf nach Einschränkungen des Streikrechts für bestimmte Bereiche, die Gewerkschaften und SPD-Chefin Saskia Esken kontern mit der Vier-Tage-Woche für Arbeitnehmer. Beides wird es freilich nicht geben. Das eine nicht, weil Streikrecht zur Demokratie und zur sozialen Marktwirtschaft gehört, das andere nicht, weil es der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb einen weiteren erheblichen Nachteil einbrächte, wo sie schon unter vergleichsweise sehr hohen Energiekosten leidet. So wird auch dieser 1. Mai mit verbalem Säbelgerassel auf der einen und mit wohlfeilen Bekenntnissen zu Gewerkschaften und Tariftreue auf der anderen Seite zu Ende gehen.
 
Dabei gibt es einiges zu besprechen und neu zu justieren in der Arbeitswelt der Deutschen. Wenngleich eine Vier-Tage-Woche bei dem geforderten vollen Lohnausgleich ebenso wirtschaftsfeindlich wie unrealistisch ist, so weist der Vorschlag aber doch auf eine Entwicklung hin, die den meisten Arbeitgebern bekannt vorkommen sollte. Vorbei die Zeiten, in denen sich Arbeitnehmer allein über ihren Beruf definierten, in denen Geldverdienen an erster Stelle stand und die Familie sich dem unterordnen mußte. Vorbei die Zeiten, in denen ein hohes Gehalt ausreichte, die Besten unter den Guten zu gewinnen. Jetzt betritt eine Generation die Arbeitswelt, die von denselben Menschen erzogen worden ist, die sich nun darüber wundern, daß es neben Karriere auch andere Werte gibt.
 
So ein Tag der Arbeit könnte deshalb auch Startpunkt für Gespräche zwischen Wirtschaft,  Gewerkschaft und Politik darüber sein, wie Deutschland sein Erwerbsleben neu definiert und organisiert, um auch in Zukunft im globalen Wettbewerb zu bestehen. Offensichtlich ist das notwendig. Wahrscheinlich ist das mangels Reformfähigkeit nicht. Also geht der 1. Mai 2023 ins Land wie der 1. Mai 2022. Alle Jahre wieder eben.
 
 
Der Kommentar erschienen am 1. Mai 2023 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.