Unaufhaltsam

Charles Ferdinand Ramuz – „Sturz in die Sonne“

von Frank Becker

Umschlag: Otto Piene
Unaufhaltsam
 
Eine verstörend aktuelle Endzeit-Vision
 
1922, im Jahr seiner Ersterscheinung, war Charles Ferdinand Ramuz´ dystopischer Roman „Présence de la mort“ (Die Gegenwart des Todes) die aus heutiger Sicht geradezu als prophetisch anzusehende Reaktion auf einen außergewöhnlich heißen Sommer in der Schweiz. Daß wir heute, 100 Jahre danach, fühlbar an der Schwelle dessen stehen, was Ramuz in einer bedrückenden Fiktion beschreibt, ist mehr als verstörend.
 
In leisen, kargen, beinahe lakonischen Tönen, Szenen und Einzelbildern erzählt Ramuz das Unvorstellbare: Durch ein katastrophales Ereignis im Gravitationssystem des Universums nähert sich die Erde im Sog deren Masse der Sonne, wird unweigerlich in sie hineinstürzen. Jedes Leben auf dem Blauen Planeten wird verglühen. Nicht die globalen Auswirkungen beschreibt Ramuz, sondern, was dem Roman eine ungemeine Dichte gibt, die regional begrenzten Ereignisse rund um den Genfer See und die ihn umgebenden Orte, Dörfer und Gebirgslandschaften. Die sommerliche Hitze in diesem  Juli, dem letzten der Erdgeschichte, wie wir lernen, steigt auf Temperaturen über 40 Grad Celsius, selbst hoch in den Bergen.
Das öffentliche Leben kommt langsam, aber immer stetiger zur Erliegen, Eisenbahnschienen verformen sich, die Zeitungen transportieren das Thema erst zögerlich, dann aufrüttelnd auf ihren Titelseiten. „Haben Sie es schon gelesen?“ Das Wasser wird knapp, Bäche versickern, die Geräuschkulisse des täglichen Lebens erstirbt, Tümpel trocknen aus, der See geht zurück, die Berge und Gletscher geraten in Bewegung. Pflanzen verdorren ebenso wie die öffentliche Moral, Tiere verdursten, es kommt zu Gewalt und Gegengewalt, zu stillem Rückzug ebenso wie lärmendem Exzess, Suizid und Revolution. Nichts hat mehr Bedeutung.
 
Besonderes Raffinement hat Ramuz´ Erzählmethode, nie die Katastrophe beim Namen zu nennen, das zögerliche Bewußtwerden bzw. die stoische innerliche Ablehnung der Unausweichlichkeit an den Aktionen, Reaktionen, am Festhalten an täglichen Gewohnheiten, Gottergebenheit und stiller Verzweiflung mitfühlen zu lassen. Im Grunde unfaßbar macht Ramuz die apokalyptischen Vorgänge in etlichen ganz kleinen Dingen greifbar.
 
„Sturz in die Sonne“ – der hier gewählte deutsche Titel übertrifft den Originaltitel – wurde von Steven Wyss sprachlich einfühlsam ins Deutsche übertragen. Es ist eine hautnahe, aufrüttelnde Endzeit-Vision von erschreckender Aktualität. Was 1922 pure Fiktion war, ist heute ein Memento mori, das gehört werden sollte.
Ich darf bezweifeln, daß Drehbuchautor und Regisseur Val Guest 1961 Ramuz´ Roman kannte, als er seine filmische Endzeit-Vision „The Day the Earth Caught Fire“ drehte. Beide, Guest´ Film und Ramuz´ Buch vermitteln das Ende unserer Zivilisation beeindruckend hautnah. Die Musenblätter geben dem Roman „Sturz in die Sonne“ ihr besonderes Prädikat, den Musenkuß* (mit Sternchen). Unser Buch des Monats.
 
Charles Ferdinand Ramuz – „Sturz in die Sonne“
(Présence de la mort) Roman
Aus em Französischen von Steven Wyss / Mit einem Nachwort von Steven Wyss
© 2023 Limmat Verlag, Züeich, 192 Seiten, Leinen bedruckt - ISBN: 978-3-03926-055-3
SFr. 30.–, 26.– €
 
Weitere Informationen: www.limmatverlag.ch