Warum dichten Dichter immer nachts?
Mein Freund Rüdiger, Dipl.-Volkswirt und erfolgreicher Geschäftsmann, vor einigen Jahren verstorben, war von meinen Gedichten meistens sehr angetan und sparte nicht mit Lob.
Eines Tages überraschte er mich mit dem Geständnis, er habe in jungen Jahren auch einmal ein Gedicht geschrieben, und zwar für die Zeitung.
Ich sah ihn fragend an, und er erzählte:
„Es gab da einen Wettbewerb, ein Preisausschreiben des Hörder Volksblatts.
Thema: Warum dichten Dichter immer nachts?
Hierzu sollte man sich in Versform äußern.
Erster Preis: 10 Reichsmark, zweiter Preis: 5 Reichsmark und
dritter Preis: ein Gedichtband.
Für 10 RM konnte man damals 3 oder 4 mal im Restaurant zu Mittag essen. Das reizte einen jungen Mann, der meistens wenig Geld in der Tasche hatte.
Also beteiligte ich mich am Wettbewerb. Mein Gedicht kann ich noch heute auswendig sagen. Es ging so:
Dichter dichten selten in der Nacht.
Dichter schreiben meist am Tage.
Haben sie ihr Tagewerk vollbracht,
suchen sie sich eine angenehme Lage,
so in weichen Betten und mit weichen Kissen,
wo man gut schläft, wie wir alle wissen.
Ich bekam keinen Preis.“
„Natürlich nicht“, sagte ich, „die Redaktion hatte anderes erwartet.“
„Richtig!“ pflichtete mir Rüdiger bei, „den 1. Preis bekam einer, der die nächtliche Aktivität der Dichter mit silbernem Mondschein und ungestörter Ruhe begründete.“
„Aber“, so fuhr er fort, „ich hatte einen pfiffigen Einfall und ging mit meinem Gedicht zu einem großen Warenhaus. War das nicht ein geeigneter Werbetext für die Bettenabteilung? Man ging gern darauf ein und zahlte mir 10,.- RM für das Gedicht. Doch noch ein Erfolg!
Der Text hing dann auch monatelang auf hellblauem Papier gedruckt in der Bettenabteilung.“
Sagte ich schon, daß Rüdiger ein erfolgreicher Geschäftsmann war?
© 2023 Joachim Klinger
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