Krieg gegen Zivilisten

Die Folgen der Zerstörung des Staudamms

von Lothar Leuschen​

Foto © Anna Schwartz
Krieg gegen Zivilisten
 
Die Folgen der Zerstörung des Staudamms
 
Von Lothar Leuschen​
 
Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Dieser Spruch  ist viel bemüht, wirkt heute reichlich abgenutzt. Aber Bilder wie die von der schwerbeschädigten Mauer des Kachowka-Staudamms geben ihm eine bedrückende Aktualität. Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Und dann sterben Menschen. Die Bilder aus dem Gebiet um Cherson zeigen die ganze Brutalität, die ganze Entmenschlichung, die militärische Gewaltakte mit sich bringen. Und noch ehe alle Notleidenden aus Häusern und von Hausdächern geborgen worden und ehe alle Toten eingesammelt worden sind, beginnt das perfide Spiel um die Suche nach den Schuldigen. Sehr wahrscheinlich ist, dass die Russen den Staudamm zerstört haben, sei es aus Absicht oder sei es, weil die Besatzer mit der Technik des Dammes nicht umzugehen wußten. Andererseits bedrohen die Milliarden von Litern Wasser auch russisch besetztes Gebiet und russische Bevölkerung. Es ist nicht undenkbar, daß der Machthaber im Kreml Opfer in der eigenen Bevölkerung einkalkuliert, um sein Kriegsziel zu erreichen. Neu wäre so ein verbrecherisches Verhalten nicht. Ebenso ist es aber möglich, daß die ukrainische Armee oder ukrainische Saboteure den Staudamm angegriffen haben, um den Russen Schaden zuzufügen, um die Besatzungsarmee in zunächst ungeordnete Bewegung zu versetzen. Es wird vermutlich dauern, bis die Schuldigen ausfindig gemacht worden sind. So war es auch bei der Sprengung der Gasleitungen in der Ostsee. Inzwischen mehren sich Hinweise darauf, daß der Anschlag auf das Konto der Ukraine geht. Wenigstens ist dabei kein Mensch ums Leben gekommen.

In dieser Hinsicht hat der mögliche Angriff auf die Staumauer bei Cherson eine andere Qualität. Wer immer das getan hat, oder wer immer sich nicht darum scherte, ob die Mauer den Kriegsumständen standhält, hat den neuerlichen Beweis dafür angetreten, daß Krieg nicht begrenzbar ist. Das Schießen, das Bomben das Sterben läßt sich nicht auf Soldaten beschränken, selbst wenn das jemals gewollt gewesen sein sollte. Die tödlichen Wassermassen aus dem Kachowka-Staudamm beweisen, daß jeder Krieg auch ein Krieg gegen Zivilisten ist.
 

Der Kommentar erschienen am 10. Juni 2023 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.