Der Witwer

Stehcafé IX

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker

Der Witwer 

Stehcafé IX
 
 
„Vorsicht, schnell hin!“ zischte die Bäckerin. Durch das Schaufenster sah ich, wie eine Politesse mit gezücktem Block vor meinem alten Auto stand. Richtig, hier war eingeschränktes Halteverbot, warum, hatte ich noch nicht herausgefunden. Es gab hier am Waldrand nichts als einen Zeitungsladen und eine Bäckerei, wer da geschützt werden sollte, war nicht einzusehen. Aber ab und zu ging eben hier eine Politesse auf einsame Jagd, und ich hatte wohl fünf Minuten zu lange in der Zeitung geblättert.
„Gerade wollte ich wegfahren“, sagte ich.
Schweigen.
„Natürlich habe ich mir auch ein Brötchen geholt.“
Schweigen.
„Es ist schön, daß Sie Ihr Amt so ernst nehmen“, sagte ich. „Habe ich früher auch getan. Es war wirklich nur ein Brötchen. Gut für Sie, daß es heute mal nicht regnet, nicht wahr.“
Ihr Gesichtsausdruck wird lockerer. „Na ja, es stimmt ja, Sie kauen schließlich noch.“
 
Das genügt mir. Ich wünsche ihr einen harmonischen Tag, schwinge mich ins Auto und fahre ohne überflüssiges Gasgeben ab.
Kaum habe ich die Verbotszone verlassen, sehe ich einen alten Kollegen mit kleinem Hund, Olearius. Rasch steige ich aus und begrüße ihn.
 
Wir waren einmal in derselben Firma, er in der Arbeitsvorbereitung, ein Zahlen- und Ordnungs-Job, ich in der Werbeabteilung. Wenn ich seine Abteilung betrat, gab es einige freundliche und witzelnde Worte hin und her, so kommt man miteinander zurecht, aber man lernt sich nicht kennen. Wenn man oft miteinander zu tun hat, erfährt man allerdings sehr viel von einander, zumindest kann man schlecht verbergen, was für eine Art Mensch man ist.
 
Von Olearius hatte ich nichts erfahren, wir hatten dienstlich fast nichts miteinander zu tun. Aber nun, da wir beide pensioniert sind, begegnet er mir sehr oft, er wohnt in unserem Viertel, da ist es nicht ungewöhnlich; und es ist auch nicht ungewöhnlich, daß alte Leute gerne wenigstens einmal am Tage etwas von der Welt spüren möchten, und dafür taugt dann auch der nichtigste Anlaß.
 
Und jetzt, da er sich gegen niemand mehr wehren mußte, plauderte Olearius sogar länger mit mir und enthüllte sein Leben. Seine Frau war vor Jahren gestorben. Niemand mehr danach? Doch, in der Kur habe er eine kennengelernt. Die sei sogar zu ihm gezogen, ein halbes Jahr hätten sie zusammen gelebt. Dann habe sie gesagt, hier im Tal könne sie nicht leben, sie brauche die Berge im Hintergrund, sie wolle zurück nach München.
„Dafür habe ich Verständnis“, hatte er gesagt. Wenn er dabei ein so gleichmütiges Gesicht gemacht hatte wie jetzt in diesem Augenblick – und er hatte immer diesen gleichmütigen Gesichtsausdruck -, dann hatte sie ihre Abreise vielleicht sogar beschleunigt.
 
Ja, was mache er denn nun den ganzen Tag? Nun, er müsse ja einkaufen, sich etwas zu essen machen. Auch schon einmal durchwischen. Das Plumeau klappe er nur zurück.
Verständlich. Aber man brauche doch Menschen! Ich sage es mit Nachdruck.
So, brauche man die? Wisse er nicht. Er brauche eigentlich niemand.
Aber was mache er denn zum Beispiel am Abend?
Am Abend? Das sei doch klar, da habe er den Fernseher. Und eine Flasche Bier.
Sei er denn gesund?
Ja, wohl doch. Pillen nehme er schon, der Arzt habe gesagt, er müsse heiterer werden, also  aufgehellt. Ja, aufgehellt, habe der gesagt. Ich denke dabei an Antidepressiva, ersparte ihm aber furchterregende Begriffe.
 
Aber noch gebe es das Leben, sage ich. Er solle ruhig am Wochenende in Kino gehen, irgendeine Anregung nehme man immer mit. Kino interessiere ihn nicht, sagt er ausdruckslos.
 
Sport, sage ich. Das sei es! Täglich Sport. Vor allem Schwimmen.  Ich denke, er lernt dabei, sich im Liegen zu bewegen, gut für die Gelenke, aber es kann auch euphorisieren, und die Neurobiologen sagen ja, man könne, den Charakter, das charakterliche Verhalten, oder wie soll ich es nennen, also, man könne sich selbst durch Änderung der Gewohnheiten ändern. Gewisse Gehirnpartien reicherten sich mit mehr Zellen an. Das wäre vielleicht der Anfang einer Änderung. Und die halte ich bei Olearius für dringend.
 
Nein, sagt Olearius, ändern wolle er sich auf keinen Fall. Mit sich habe er eigentlich keine Schwierigkeiten.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008