Der kleine Junge und der Dichter
Der kleine Junge kam zu dem alten Mann.
„Guten Tag“, sagte er.
„Guten Tag“, sagte der alte Mann.
„Ich möchte ein Gedicht machen“, sagte der kleine Junge. „Sag mir bitte, wie man das macht.“
„Das ist nicht leicht“, erwiderte der alte Mann, „nein, leicht ist das nicht.“
„Aber du bist doch ein Dichter“, rief der kleine Junge, „Du wirst doch wissen, wie man ein Gedicht macht.“
„Ja, die Leute sagen, daß ich ein Dichter bin“, nickte der Alte, „aber sag mir doch, warum du ein Gedicht machen willst.“
„Weil das hübsch ist“, sagte der kleine Junge, „es klingt gut. Man kann anderen Menschen damit eine Freude machen, wenn man es aufsagt.“
Der alte Mann wackelte mit dem Kopf.
„Das kann so sein, muß aber nicht so sein. Was ist denn hübsch am Gedicht?“
„Die Reime“, sagte der kleine Junge, „die Reime machen das Gedicht hübsch. Das klingt so gut, weil die Reime so etwas wie eine Wiederholung bringen. Man kann sich das gut merken.“
„Das ist wohl wahr“, sagte der alte Mann bedächtig.
„Weißt du, das ist wie Musik“, fuhr der kleine Junge fort. „Man möchte es noch einmal hören.“
„Das stimmt“, bestätigte der alte Mann. „Aber ein Gedicht kann auch schön sein, wenn es keine Reime hat.“
„Nein“, sagte der kleine Junge, „das Gedicht muß klingen. Die Reime sind wie Vögel, die zusammen fliegen und gemeinsam singen.“
„Aha“, sagte der alte Mann, „und weiter!“
„Das ganze Gedicht muß sein wie ein Vogellied, wie eine schöne Melodie“, rief der kleine Junge.
„Hm, hm“, murmelte der alte Mann.
„Beim zweiten Mal gefällt es dir noch besser. Und beim dritten. Mal erst recht“, fuhr der kleine Junge fort. „Und wenn du es nach Tagen wieder entdeckst, hast du deine helle Freude!“
„Höre, mein Junge“, sagte der alte Mann lächelnd. „Du wirst ein Gedicht machen ganz ohne meine Hilfe. Ich weiß, daß du es kannst. Also los!“
Da lief der kleine Junge fröhlich davon.
© 2023 Joachim Klinger
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