Purer Pragmatismus
Flüchtlingsabkommen: EU mit Tunesien einig
Von Lothar Leuschen
Die Europäische Union hat sich mit Tunesien auf ein Flüchtlingsabkommen geeinigt. Das klingt zunächst nach einer ebenso wichtigen wie guten Nachricht. Schließlich besteigen in dem nordafrikanischen Land immer noch tausende von Menschen unsichere Boote, um über das Mittelmeer das gelobte Land zu erreichen. Wie oft die gefährliche Reise mit dem Tod endet, ist vielfach beschrieben – aber nicht der Hauptgrund dafür, daß die EU Tunesiens umstrittenem Präsidenten Kais Saied Finanzhilfen in Höhe von 900 Millionen Euro versprochen hat.
In erster Linie geht es bei dem Abkommen um Innenpolitik. Viele EU-Staaten sind nicht bereit, noch mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen. Italiens rechte Ministerpräsidentin Meloni hat mit dem Versprechen die Wahl gewonnen, den Zustrom zu stoppen. Eine „Wir-schaffen-das“-Politik wird allein noch von der deutschen Bundesregierung propagiert, wenngleich sich auch bei SPD und Grünen langsam die Erkenntnis durchzusetzen scheint, dass grenzenloser Zuzug die Systeme überfordert.
Tatsächlich scheint auch in Deutschland der Kipppunkt erreicht zu sein. In der Bevölkerung macht sich die Ahnung immer breiter, daß Städte und Behörden längst überlastet sind, was auch mit dem Krieg in der Ukraine und der dadurch noch einmal gestiegenen Zahl von Schutzsuchenden zu tun hat. Die Gesellschaft entwickelt Unwohlsein. Nutznießer ist die AfD. Sie rechnet fest damit, im kommenden Jahr bei Landtagswahlen im Osten die Stimmen der Unzufriedenen und der Verunsicherten einsammeln zu können.
Vor diesem Hintergrund hat das pragmatische Abkommen der EU mit Tunesien reichlich Sinn. Doch abgesehen davon, daß sich künftig vielleicht weniger Menschen auf die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer machen, wird das eigentliche Problem nicht gelöst. Menschen fliehen, weil in ihrer Heimat Krieg, Terror und/oder Armut herrschen. Auch dagegen muß die westliche Welt viel mehr unternehmen, wenn sie ihre Flüchtlingskrise beenden will.
Der Kommentar erschienen am 18. Juli 2023 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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