Menschen auf Reisen

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Menschen auf Reisen
 
In der Corona Krise wurde viel darüber lamentiert, daß Menschen keinen direkten Kontakt haben durften und auf Abstand von anderen achten mußten, die sie in Supermärkten, auf Spielplätzen oder in den Straßen trafen, und es war gut, wenn sich alle darum bemühten. Leider war die einfachste Möglichkeit, Menschen aus dem Weg zu gehen, seinerzeit versperrt. Gemeint ist das Reisen, das solange unterbleiben mußte, solange keine Hotels geöffnet waren und auch die Gastronomie erst wieder auf die Beine kommen mußte. Reisen gehört zu den großen Vergnügungen von Menschen, wie jeder von sich selbst weiß und sich historisch durch den Hinweis belegen läßt, daß mit dem Aufkommen der Eisenbahnen „Europa in einen Zustand der permanenten Bewegung“ geraten war, wie etwa die schottische Zeitung „Edinburgh Review“ um 1860 feststellte, als erstmals nicht nur alle europäischen Hauptstädte, sondern auch kleinere Orte mit der Eisenbahn erreicht werden konnten und das Publikum sofort in Scharen anrollte. Als eine Folge kamen nicht nur Touristen in Massen, worüber sich selbst Theodor Fontane beklagte - „Die ganze Welt verreist heutzutage“. Menschenmengen wurden vor Sehenswürdigkeiten geschleppt, vor denen sie heute mit ihren iPhones stehen.

Fontane kam dieses Verhalten „idiotisch“ vor, vor allem wenn Touristen „doing Europe“ auf ihrem Programm stehen hatten und nur abhakten, was ihre Broschüren aufführten. Doch dieser Blick auf die menschliche Kultur kann und muß ergänzt werden durch den Hinweis, daß in den Jahren der ersten Massenreisen die ersten Pioniere einer neuen Wissenschaft auftauchten, die sie bald Anthropologie nannten und die nicht bloß davon handelte, was ein Mensch ist, sondern davon, wie jeder der besondere Mensch wird, der er oder sie ist. Die ersten Anthropologen reisten wie Europäer durch die Welt und besuchten fremde Völker zum Beispiel in Polynesien, um mit ihren Feldforschungen die alte philosophische Überzeugung von einem unveränderlichen Typ, der sich in einem Menschen zu erkennen gibt, zu überwinden und das Gegenteil zu zeigen, nämlich daß die Mitglieder der Art Homo sapiens über eine fließende und anpassungsfähige Kultur verfügen und sich ihr Leben lang bilden können. Deshalb haben sie mit dem Reisen begonnen, sobald die technischen Möglichkeiten vorlagen, und sie tun dies bis heute. Der Mensch kann dabei das Ziel haben, zu sich selbst zu kommen. Aber offenbar kommt er da nicht an. Das ist nicht schlimm. Im Gegenteil. Es ist des Menschen Glück.
 

© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
(Redaktion: Frank Becker)