Elfenbeintürme
Wenn sich Leute über die Wissenschaften ärgern, kann man oft die Klage hören, die Forschenden sollten gefälligst aus ihren Elfenbeintürmen herauskommen und dem Volk Rede und Antwort stehen. Als Helmut Schmidt noch ein kettenrauchender Kanzler war, hat er den Wissenschaftlern zusätzlich eine Bringschuld aufgeladen, die sie der Öffentlichkeit gegenüber haben. Ich denke, man sollte eher nach dem jeweiligen Gegenteil rufen, nach einer Holschuld des Publikums auf der einen Seite und nach einer Vermehrung von Elfenbeintürmen auf der anderen Seite. Genau mit diesem Rat schließt das Vater-Sohn-Autoren-Duo Gareth und Rhodri Ivor Leng sein Buch mit dem Titel „The Matter of Facts“, in dem es um Skeptizismus, Überredung und Evidenz in den Wissenschaften geht. Die Qualität der Forschung - so die beiden Mitglieder der Universität von Edinburgh - leidet unter zu viel Marktgeschrei und Publikationssucht, und es könnte doch sein, daß die Wissenschaft wieder besser und verläßlicher wird, wenn sie tatsächlich einen Elfenbeinturm bezieht und sich abschottet. Als der Begriff zum ersten Mal verwendet wurde, diente er als Symbol für die selbstgewählte Isolation eines Künstlers oder Wissenschaftlers, „der in seiner eigenen Welt (nur seinem Werk) lebt, ohne sich um Gesellschaft und Tagesprobleme zu kümmern“, wie sich zum Beispiel im Brockhaus nachlesen läßt. Dieser „Elfenbeinturm“ ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, und sie geht auf den Literaturkritiker Sainte-Beuve zurück, der damit konkret das Werk des Dichters Alfred Comte des Vigny meinte. In dessen Texten treten Ausnahmeerscheinungen (Genies) auf, die innerhalb einer verständnislosen Gesellschaft keinen Platz finden und sich deshalb von ihr entfernen. Sie ziehen sich in einen Elfenbeinturm zurück, wobei Sainte-Beuve dieses Wort auf zustimmende Weise verwendete, wie es sich gehört. Elfenbeintürme dieser Art hat es in der jüngeren Geschichte der Wissenschaft gegeben, zum Beispiel in Kopenhagen, Göttingen und in Princeton (New Jersey). Wer sie anschaut, wird erkennen, daß Elfenbeintürme für die Entwicklung der Wissenschaft notwendig sind und daß eine Gesellschaft die hier tätigen Forscher braucht, um ihre Probleme zu lösen. Man sollte sich nicht aus diesem Paradies vertreiben. Bei Elfenbeintürmen hat man keine Wahl, es sei denn, jemand kann erklären, wie anders als durch Grundlagenforschung wirklich grundlegende Probleme zu lösen sind - zum Beispiel die Frage nach der Energiespeicherung oder die Frage, was an die Stelle von Wachstum zu setzen ist, um eine nachhaltige Ökonomie zu betreiben.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
(Redaktion: Frank Becker)
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