Der kleine Junge und der Lehrer

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Der kleine Junge und der Lehrer
 
Der kleine Junge kam zu früh zur Schule, und die Klasse war noch leer. Das heißt: es war noch kein Schüler da, aber der Lehrer saß neben dem Pult auf einem Stuhl.
„Guten Morgen Herr Luttmann“, sagte der kleine Junge.

„Guten Morgen“, sagte der Lehrer und betrachtete den kleinen Jungen mit gefurchter Stirn. „Ich habe deinen Aufsatz zweimal gelesen“, fuhr er fort, „er ist einerseits schön und andererseits schlecht.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte der kleine Junge.

„Ich will versuchen es zu erklären“, fing der Lehrer an. „Sieh mal, das Thema lautete: Bäume unserer Heimat. Da sollte man etwas schreiben über den Wuchs der Bäume. Die knorrige Eiche, die schlanke Birke zum Beispiel. Dann über Blattformen, die gezackten Blätter des Ahorn, oder die ovalen Blätter der Weide. Ob die Bäume Einzelgänger sind wie zum Beispiel die Lärche oder gern in Gruppen stehen wie die Birken. Dazu hast du gar nichts geschrieben.“

„Und weiter“, drängte der kleine Junge.

„Du hast aber“, fuhr der Lehrer fort, „geschrieben über Zwerge, die zwischen den Wurzeln der riesigen Ulme leben, über Elfen, die auf den Ästen der Lärche schaukeln und über die Eule, die in einer Baumhöhle ihre Jungen betreut.“
„Aber das ist doch schön“, meinte der kleine Junge.

„Ja, das ist es“, bestätigte der Lehrer, „aber du hast das Thema verfehlt. Du solltest von Baumbeobachtungen berichten und hast Märchen erzählt. Wie soll ich das beurteilen? Ich muß doch eine Note unter die Arbeit setzen. Aufsätze sind zu zensieren.“

„Warum?“, fragte der kleine Junge.

„Damit du später ein Zeugnis bekommst, das Aufschluß gibt über deine Fähigkeiten“, erwiderte der Lehrer.

„Dann gib mir doch einfach zwei Noten“, schlug der kleine Junge vor, „einmal wegen des verfehlten Themas, das andere Mal wegen der hübschen Märchen.“

„Das muß ich mit dem Schulrat besprechen“, überlegte der Lehrer. Er sah nachdenklich vor sich hin.

„Ob Theodor Storm in der Schule auch zwei Noten bekommen hat?“, fragte der kleine Junge.

„Wie kommst du denn auf Theodor Storm?“, wunderte sich der Lehrer.

„Sie haben uns einmal erzählt, daß er ein kluger Richter war und zugleich auch wunderbare Märchen geschrieben hat. Wie zum Beispiel die Regentrude und Bulemanns Haus.“

„Kann schon sein, kann schon sein“, sagte der Lehrer und strich sich über die Stirn, „darüber muß ich auch mit dem Schulrat sprechen. Ja, das muß ich wohl.“

„Tun Sie das, Herr Lehrer!“, sagte der kleine Junge fröhlich und warf den Schultornister schwungvoll auf seinen Platz.
 

© 2023 Joachim Klinger