Die Angst vor dem Wissen
und die Vorteile des Unwissens
Zu meinen grundlegenden Überzeugungen gehört erstens, daß Wissen besser ist als Nichtwissen, und zweitens, daß das selbstverständlich ist und doch niemand etwas anderes denken kann. Doch weit gefehlt. Es gibt tatsächlich so etwas wie Epistemophobie oder Gnosiophobie, was beides komplizierte Ausdrücke für das sind, was man die Angst vor Wissen nennen kann. Betroffene scheinen auf der einen Seite alles zu meiden und von sich zu schieben, das ihren Horizont erweitern und ihr Weltbild erschüttern kann, wobei man den Eindruck gewinnt, daß sie sich sicherer fühlen, wenn sie das vielfach angebotene Wissen auf sich beruhen lassen, von dem sie das meiste doch nicht verstehen. Vor etwa 100 Jahren fragte der große Sozialwissenschaftler Max Weber sein Publikum bei einem Vortrag, ob sie wüßten, a) wie eine Straßenbahn das macht, loszufahren und anzuhalten, und b) wie man es mit Blockchain zustande bringt, eine Kryptowährung zu etablieren. Die letzte Frage ist natürlich als Scherz gemeint, aber Weber fragte sein Zuhörer im Ersten Weltkrieg ernsthaft, ob sie ihm erklären könnten, wie es möglich ist, daß man mit Geldscheinen Waren erwerben kann und wo deren Wert eigentlich steckt und herkommt. Maschinen und Währungen - Menschen sind von beiden abhängig und in jeder Hinsicht ahnungslos über sie, was den meisten zwar keine Sorge bereitet - dafür gibt es wie für die meisten Dinge gut ausgebildete Fachleute -, was aber einigen Leuten Angst macht, die sich im Übrigen steigert, wenn man ihnen zu erklären versucht, was die Wissenschaft wirklich weiß. Vielleicht sollte ich mich nicht nur über den Nutzen und den Vorteil des Wissens freuen. Vielleicht sollte ich auch einmal ins Auge fassen, daß Unwissen Vorteile bringen kann. Dazu gibt es inzwischen sogar eine eigene Forschungsrichtung, die Agnotologie heißt und die Ignoranz nicht nur verteufelt, sondern auf das viele unnütze Zeug verweist, das etwa im Schulunterricht gepaukt werden muß. Natürlich benötigen Menschen Wissen, um Schwindler und Betrüger zu entlarven, aber wer will schon genau wissen, was ihm im Alter bevorsteht? Und wer will am Anfang eines Fußballspiels wissen, wie es ausgeht? Abgesehen davon wächst die Lust am Wissen, wenn ich weiß, wie wenig ich weiß, ohne zu vergessen, daß ich von Natur aus wissen will. Vielleicht sollte ich mich lieber mit dem Unwissen anfreunden. Es gibt so viel mehr davon, und es treibt die Menschen unentwegt an. Sie leben auch von ihm.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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