Gigantentreffen in der Essener Philharmonie

Nelson Freire & Kurt Masur versus Huster

von Peter Bilsing
Gigantentreffen in der Essener Philharmonie
 
Nelson Freire & Kurt Masur versus Huster
 
Sonntag 07. Dezember 2008 | 15:00
Philharmonie Essen, Alfried Krupp Saal
 

Johannes Brahms, Konzert Nr. 1 d-Moll für Klavier und Orchester, op. 15
Koninklijk Concertgebouworkest & Kurt Masur
Nelson Freire, Klavier
 
Antonín Dvorák, Sinfonie Nr. 9 e-Moll, op. 95 "Aus der Neuen Welt"
Koninklijk Concertgebouworkest, Kurt Masur, Dirigent
 
Gefühlswelten

Das erste Klavierkonzert von Johannes Brahms ist mehr als das leidenschaftliche Jugendwerk eines 25-Jährigen. Und es ist bezeichnend, daß er sich erst 20 Jahre später wieder an ein Klavierkonzert heranwagte. Bei der Uraufführung im Jahre 1857 war die Musik-Welt noch nicht bereit für ein solches Monsterwerk. Der Brocken war zu groß, den der Meister einem sich bisher mehr an plakativem Wohlklang labenden Publikum vorgeworfen hatte. In dem hochanspruchsvollen beinahe dreiviertelstündigen Klavierkonzert (Brahms dachte ursprünglich an eine Sinfonie und sprach auch später immer von seiner „Sinfonie mit obligatem Klavier“) geht es um Gefühlswelten, so unter anderem um Brahms´ große Freundschaft zu Robert und Clara Schumann, aber auch um unerfüllte Liebe und Leidenschaft für die Ehefrau seines Mentors. Die zeitliche Nähe zu Robert Schumanns Selbstmordversuch und seine Einweisung in eine geschlossene Anstalt transponieren manch düstere Töne. Hinzu kommt die langwierige Entstehungsphase des Konzerts. Immerhin hatte sich Brahms nach dem Tode Schumanns 1856 noch Hoffnung auf Clara gemacht. Verständlich vielleicht, daß er nach der mißglückten Uraufführung ein Jahr später dann das Rondo des dritten Satzes noch mehrmals umschrieb.
 
Großartige Symbiose

Wenn einer der letzten großen Giganten des Klaviers, Nelson Freire, der trotz seiner immerhin fast 65 Jahre immer noch ein wenig als Geheimtip gehandelt wird, mit diesem Werk auftritt, dann werden Maßstäbe gesetzt. So auch in der Essener Phiharmonie. Wenn dabei mit Kurt Masur ein zweiter Gigant vorne am Pult steht und mit dem Concertgebouw das weltbeste Orchester aufspielt, könnte es zum finalen Kampf der Giganten kommen. Doch Freire ist kein Kraftmeier. Er geht das Werk mit der gebotenen Zurückhaltung an, ohne sich allerdings wie Zimmermann in einer quasi zeitlosen Unendlichkeit zu verlieren. Seine perlenden Noten haben noch die nötige Bodenhaftung und sein Umgang mit dem Pedal ist immer streng werkdienlich. Da Masur ihn frei wirken läßt – es ist schon fast etwas seltsam, wie beinah unbeteiligt der Dirigierstar seinem Solisten Zeit und Raum läßt – entfaltet sich die Musik pur, sprudelt leichtfüßig und berauscht dennoch nachhaltig. Freire hört nicht nur konzentriert in das Orchester hinein, sondern wirkt als Aszendent für eine Wiedergabe, die ihresgleichen sucht. Was für eine Klangsymbiose - eine Interpretation, welche Freieres letzte grandiose CD-Einspielung mit dem Gewandhaus-Orchester unter Chailly beinah noch übertrifft. Ein nicht zu bewältigender Akt der Zurückhaltung fürs hustengeplagte Publikum, das jede Pause zwischen den Sätzen zu gewaltigen Tussis-Orgien nutzte und auch die Konzentration der Musiker ankratzte, frei und dreist nach dem Motto „Wer krank ist geht, zum Arzt - wer Husten hat, in die Essener Philharmonie zum Konzert.“
 
Ein Selbstläufer

Ich hätte mir wirklich größere Begeisterung für diese Trauminterpretation gewünscht, aber das Publikum war erkennbar eher für den zweiten Teil des Abends gekommen: „Aus der neuen Welt“ (Dvoraks 9. Sinfonie) Daa dada dah dadda… - das vielleicht nach Beethovens Fünfter meistgespielte und auch ohne Eislaufprinzessinen immer noch hyperpopuläre Konzerstück.
Man wurde nicht enttäuscht. Kurt Masur dirigierte mit marginalem Einsatz einen Selbstläufer. Wahrscheinlich hätte dieser Weltklangkörper auch ohne Dirigent fehlerlos aufgespielt, aber dennoch mochte man den Maestro nicht missen, denn von einer altersträgen Interpretation war der 82-jährige „Volksheld der ehemaligen DDR“ weit entfernt. Locker, luftig, fröhlich und mit akkuratem Tempo ließ Masur dem Concertegebouw freien Lauf. Selbst der Hitparadensatz „Allegro con fuoco“ bliebt herrlich transparent und ohne diese klebrige alles erschlagende Blechbläserdominanz eines Aida´schen Triumphmarsches, wie man sie meist zu hören bekommt. Sogar die Huster waren beeindruckt – auch ohne Tussipect.
 
Dabei wäre dieses tolle Konzert beinahe nicht zustande gekommen, denn Masur hatte als einer der wenigen ganz großen Künstler Rückgrat gezeigt, nach dem intriganten Rauswurf des beliebten Intendanten Michael Kaufmann den Essener Kultursenatoren den kalten Rücken gewiesen und eigentlich für alle Zukunft jegliche Präsenz in Essen abgesagt. Schade, daß der große Maestro sich wenigstens nicht doch zu ein paar finalen Worten in dieser Sache ans Essener Publikum hat hinreißen lassen.