Maß und Mitte verloren
Tarifverhandlungen in unsicheren Zeiten
Von Lothar Leuschen
Wahrscheinlich ist Klaus Weselsky derzeit einer der meistgehaßten Menschen in Deutschland. Das ist verständlich bei vielen, die sich auf Mobilität mit der Bahn verlassen und regelmäßig scheitern. Tolerabel ist die teils üble Beschimpfung des Chefs der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) dennoch nicht. Weselsky erfüllt grundsätzlich seine Pflicht. Die besteht darin, für die Mitglieder der GDL die bestmöglichen Arbeitsbedingungen zu bestmöglichen Konditionen zu erkämpfen. Damit befindet er sich in kollegialer Gesellschaft mit den Funktionären der Gewerkschaft Verdi, die im öffentlichen Dienst derzeit wieder in derselben Mission unterwegs sind. Auch dagegen ist nichts einzuwenden.
Anlaß zu Kritik gibt es dennoch. Die Forderungen der Gewerkschafter wirken absurd. In Zeiten, in denen der Wirtschaft rauher Wind entgegenweht, in denen der Staat von Poly-Krisen gefordert ist und in denen es an Arbeitskräften mangelt, fällt es schwer, den Wunsch beispielsweise nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich angemessen zu finden. Dasselbe gilt für Tariferhöhungen in zweistelliger Prozenthöhe, zumal die Inflation sich inzwischen abgeschwächt hat und der Staat in den vergangenen zwei Jahren einige Sonderhilfen an seine Bürgerinnen und Bürger ausschüttete. Daß er dabei mit der Gießkanne vorging, war sicher ungeschickt. Aber auch das rechtfertigt nicht, die Republik lahmzulegen.
Der Arbeitskampf im Jahr 2024 zeigt, wie zerrissen die deutsche Gesellschaft mittlerweile ist. Auf der einen Seite stehen Politikerinnen wie die Vorsitzende der Grünen Jugend, Katharina Stolla, die 20 Stunden Wochenarbeitszeit langfristig für ausreichend und möglich halten, wenn der Staat die Reichen nur genügend zur Kasse bittet. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die den Wohlstand in Deutschland in 40-Stunden-Wochen ohne Anspruch auf Homeoffice aufgebaut haben. Der Weg in der Zukunft liegt irgendwo dazwischen. Er muß entwickelt und zur Not erstritten werden. Das gelingt aber nicht mit Gewerkschaftern, die Maß und Mitte verloren haben.
Der Kommentar erschien am 9. März in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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