Hysterie
Eine Abrechnung mit der Psychatrie
und den Göttern in Weiß
Die Psychiatrie ist, beziehungsweise war um die vorige Jahrhundertwende, wie uns Alexander Kambers Roman „Nachtblaue Blumen“ mit scheinbarer Leichtigkeit, jedoch unüberhörbar bitterböse klar macht, ein Experimentierfeld, auf dem für krank erklärte Patientinnen hilf- und rettungslos der Macht von ambitionierten Ärzten ausgeliefert waren.
Paris um 1890: Eine 16 Jahre alte Cabaret-Tänzerin, die schlicht und einfach nicht mehr tanzen möchte, wird deshalb auf Bestreben ihres Patrons in die Pariser Nervenheilanstalt Salpêtrière eingeliefert. An Hysterie leide sie, erklären ihr die untersuchenden Ärzte. Mit diesem Begriff läßt sich alles erklären und nichts beweisen, doch ist man erst einmal in den Händen der Irrenärzte – ich benutze dieses archaische Wort bewußt – ist man ihren Theorien und Behandlungsmethoden ausgeliefert und unterworfen. Die Patientinnen, die Handlung des Romans spielt sich in der Abteilung für Frauen ab, werden ohne Skrupel manipuliert, ausgenutzt, ja benutzt und wohl auch für Experimente und unter Hypnose am lebenden Subjekt mißbraucht. Der Autor Alexander Kamber versteht es, das Offensichtliche in klarer Sprache, das zu vermutende in feinen Andeutungen durch die Feder der Protagonistin Avril, die den Ablauf ihres Aufenthaltes in der Klinik in einer Kladde notiert, zu sagen.
Die „Vorführungen“, in denen der leitende Nervenarzt der Salpêtrière vor Zuschauern mit den jungen Patientinnen (unterer Schichten) die Existenz der rätselhaften Krankheit Hysterie zu beweisen versuchen, sind platte Inszenierungen für ein sensationslüsternes Publikum.
Auch Avril und ihre Freundin, die Taschendiebin und Assistentin eine Illusionisten Cléo, der zur Sedierung Kaluimbromid verabreicht wird, dienen als Fallbeispiele. Was ist der Grund dafür, daß sich die Krankheit bei ihnen stetig verschlimmert? Gibt es Hoffnung auf Heilung? Oder sind sie gar nicht krank, wie gelegentlich durchschimmert? Gibt es einen Weg raus aus der Salpêtrière, die man im Paris der Jahrhundertwende die „weibliche Hölle“ nannte? Sie selbst haben keinerlei Einfluß auf die Entwicklung, denn gleich, wie sie sich verhalten, wird alles als Symptom der vermeintlichen Krankheit erkannt. Verlieren sie unter der Behandlung der Götter in Weiß letztlich tatsächlich den Verstand?
Dieser kleine Roman, in pikanten Häppchen von Vorgeschichte und Gegenwart vorgelegt, ist ebenso brillanter wie brisanter Stoff, einzigartig in Sprache und Stimmung und als Geschichte ebenso überzeugend wie als medizinhistorischer Rückblick. Sehr zu empfehlen.
Alexander Kamber – „Nachtblaue Blumen“
Roman
© 2024 Limmat, 124 Seiten, gebunden - ISBN-13: 9783039260744
26,- €
Weitere Informationen: www.limmatverlag.ch
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