Ungemein fesselnd

David Grann – „Der Untergang der Wager“

von Frank Becker

Peter Monamy, Ships in distress in a storm (Det.) © Tate London
Ungemein fesselnd
 
Der Tatsachenbericht über den Untergang
der HMS „Wager“ 1741
 
Die Faszination der Weltmeere mit dem Abenteuer romantisch verklärter Seefahrt, wie sie bis vor wenigen Jahrzehnten die überwiegend männliche Jugend begeistert hat, gibt es nicht mehr. Wo über Jahrhunderte wagemutige Männer auf Segelschiffen den Atlantik und den Pazifik, die arktischen und antarktischen Gewässer, den indischen Ozean, die Karibik und das Mittelmeer über die Ränder der bis dahin bekannten Welt durchfahren haben, regieren heute GPS-erfaßt und -gelenkt gigantische Containerschiffe, mächtige Öltanker und riesige Kreuzfahrt-Liner die Schiffahrtswege. Die Zeit der Entdeckungsreisen und kriegerischen Segelschiff-Flotten ist vorbei.
In unserer Jugend haben wir unsere Phantasie von den Reisen Leif Erikssons, Amerigo Vespuccis, Christoph Columbus´, Francis Drakes, Ferdinand Magellans, James Cooks, Felix Graf Luckners oder Thor Heyerdahls und berühmter Kap Hoorniers speisen lassen, Bücher wie „In allen vier Winden“, „Land in Sicht“, Cooks Fahrten um die Welt“, „Seeteufels Weltfahrt“, „Siegsmud Rüstig“ oder „Kon-Tiki“ verschlungen. Der Traum von der Weite der Welt und ihren geheimnisvollen Verlockungen war groß.
 
Ungleich aufregender und weitaus spannender ist jenseits aller Verklärtheit der Tatsachenbericht über die Reise und das Scheitern des britischen Kriegsschiffes „Wager“, der von David Grann recherchiert und nach Original-Dokumenten verfaßt jetzt auch in deutscher Übersetzung von Rudolf Mast vorliegt: „Der Untergang der Wager“ - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei.
Und sehr schnell schwindet beim gespannten Leser auch das seefahrtromantische Ideal vom Durchkreuzen der Meere, denn David Grann räumt damit in seinem Buch gründlich auf.
Eindrücklich, hautnah und schmerzhaft detailliert schildert er die harten Lebensverhältnisse und Hierarchien an Bord der „Welt aus Holz“ eines britischen Geschwaders, das unter Kapitän George Anson mit den Schiffen Centurion, Wager, Glouchester, Pearl und Severn, dem Kleinsegler Tryal sowie den Versorgungsschiffen Anna und Industry 1740 in See stach, um der spanischen Flotte ein legendäres Silberschiff abzujagen und die Spanier damit empfindlich zu treffen. Es sollte ein Himmelfahrtskommando mit desaströsem Ende werden, das nur wenige der eingeschifften über 2.000 Seeleute und Soldaten überleben würden.
 
David Grann schildert die Höllenfahrt über den Atlantik, um das sturmumtoste, gnadenlose Kap Hoorn und durch schier unbefahrbare Gewässer des Südpazifiks am Fall der Wager und ihres stolzen Kapitäns David Cheap. Eben erst vom Oberleutnant auf der Centurion zum Kapitän der Wager ernannt, muß Cheap erleben, wie sein Traum endlich ein Kriegsschiff der königlichen Marine zu führen nach der Umrundung Feuerlands und Kap Hoorns vor der Westküste Patagoniens in Hunger und Skorbut, Tod und Schiffbruch, schließlich auf dem rettenden Eiland in einer Meuterei endet.
Man wird sich der Enge an Bord der Wager bewußt, die in ihren niedrigen Decks fast doppelt so viele Männer aufnehmen mußte wie auf normaler Fahrt, des Gestanks von Mensch und Tier (Schweine, Kühe und Hühner wurden als lebender Proviant mitgeführt, aber nicht genug Gemüse oder gar Obst), der ausbrechenden Rivalitäten und Streitigkeiten, der Läuse und Ratten. Als das Schiff mit seinem im Fieber liegenden Kapitän auf ein Riff läuft und zerbricht, ist nur noch knapp die Hälfte der Besatzung am Leben. Auf eine Felseninsel gerettet zerbricht in Monaten der Isolation und des Hungers die Disziplin. Es kommt zu Abspaltungen, Gruppenbildungen, Verschwörungen, Diebstahl, Gewalt und Auspeitschungen,  bis nach der Erschießung des Fähnrichs Henry Cozens durch den Kapitän eine Gruppe Aufrührer Kapitän Cheap fest- und aussetzt und unter Stückmeister John Bulkeley mit einem von Schiffszimmermann Cummins notdürftig gezimmerten Boot und zwei fragilen Beibooten den Rückweg durch die Magellanstraße antritt.
 
Januar 1742. Das ramponierte Boot strandet an der Küste Brasiliens, an Bord 30 von 81 Männern, die einzigen Überlebenden des königlichen Prisenschiffs Wager. Niemand ahnt, daß sechs Monate später drei Schiffbrüchige in Chile an Land gespült werden erklären und die 30 Männer zu Meuterern, die skrupellos gemordet hätten – unter den dreien ist Kapitän David Cheap. Bulkeley, Cheap und Fähnrich John Byron sowie einige andere Überlebende schildern zurück in England die Ereignisse den Gazetten, später in Büchern, die reißend Absatz finden. Wer aber lügt, wer sagt die Wahrheit? Das soll ein britisches Kriegsgericht entscheiden. Es geht um Leben oder Tod, denn nach Seerecht sind die meisten der Ereignisse Verbrechen die am Strang enden. Daß Kapitän Anson bei den Philipinen derweil die spanische Galeone tatsächlich finden und alleine aufbringen konnte, wird nahezu zur Nebensache.
David Grann hat aus dem reichhaltigen Archivmaterial, Büchern, Tagebüchern, Gerichtsakten etc. eines historischen Kriminalfalls einen unerhört fesselnden Bericht, eines der besten Bücher über die alte Seefahrt,  geschrieben, zugleich eine packende und atmosphärisch dichte Abenteuererzählung. „Der Untergang der Wager“ erhält unsere Auszeichnung, den Musenkuß - redlich verdient.
 
David Grann – „Der Untergang der Wager“
Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
 
© 2024 C. Bertelsmann, 430 Seiten, gebunden, Bildteilen, Karten und Lesebändchen – ISBN: 978-3-570-10546-7
25,- €
 
Weitere Informationen: www.penguin.de