Ortschaften der Geheimnisse

von Werner Bergengruen

Umschlagzeichnung Jacques Schedler
Ortschaften der Geheimnisse
 
Zahllose Orte kennen wir, aber es gibt noch andere. Es gibt Orte, die ewig im Dunkel bleiben, im Rätsel und im Geheimnis. Und doch kennt jeder ihre Namen, kennt sie aus Kursbüchern, von Fahrkarten ıınd Reisebüros.
     Da ist Kreiensen. Wenn man vorüberfährt, ist es immer Nacht. Kommt man tags vorbei, etwa auf der Reise von Hamburg nach Basel oder von Magdeburg nach Köln, so drängen sich die Umsteigenden im Gange und verdecken die Fenster. Noch nie habe ich von Kreiensen mehr zu sehen bekommen als den Bahnsteig, den Eingang zum Wartesaal, ein Mädchen mit Bier und einen Jungen mit Zeitungen.
     Ist Kreiensen eine Stadt, ein Dorf? Hat es überhaupt Realität oder ist es nur eine Fiktion, ein mathematischer Begriff, Schnittpunkt zweier Linien? Eine halb von Willkür, halb von Gesetzmäßigkeiten diktierte Annahme, etwa wie ein Meridian, wie der Aequator, die Erdachse, der Index der Lebenshaltungskosten, das Durchschnittsalter der Papageien, die Steuersumme, die auf den Kopf der Bevölkerung entfällt, die mittlere Temperatur von Barcelona, die jährliche Regenmenge von Singapore, der Prozentsatz der tödlichen Ausgänge von Typhuserkrankungen?
     Und wenn es eine Stadt ist, so ist es vielleicht eine schöne Stadt. Wie müßte es im Idiom der Reisehandbücher heißen? Ist es vielleicht die Perle des Landes Niedersachsen oder nur die Perle der D-Zugstrecke Hamburg-Basel? Hat es Industrie? Wird da vielleicht geklöppelt? Hat es ein Denkmal? Einen großen Sohn? Vielleicht gar einen größten? Gibt es da ein vornehmes, stillgewordenes Biedermeierhaus mit der Gedenktafel: «Hier lebte … von ... bis …» Vielleicht Goethe? Aber sein Leben ist schon so gräßlich erforscht, nirgends eine Lücke, in der er in Kreiensen gewesen sein könnte. Größere Chancen böte wahrscheinlich Hölty, man kennt ihn weniger. Am Ende Wilhelm Raabe, Zeppelin oder Spitzweg? Ja, vielleicht ist es ein liebes altes Spitzwegstädtchen mit strümpfestrickenden Invaliden, grasbewachsenen Kanonen, weinlaubumsponnenen Gevatterinnen-Erkern?
     Gibt es vielleicht eine Schlacht bei Kreiensen?
Oder ein Volkslied:
             Nun wölln wir aber heben an
             von Kreiensen, der edlen Stadt …
 
Und die Einwohner? Sagt man Kreienser oder Kreiensener oder gar Kreiensenenser? Wie merkwürdig müßte das sein: eine Reisebekanntschaft, ein wohlbeleibter Herr mit rötlichblondem Schnurrbart, gesunder Gesichtsfarbe und einem grauen Sportanzug von der Art, die immer im Speisewagen sitzt, helles Bier trinkt und Schinkenbrötchen ißt. Man wechselt ein paar Worte, und plötzlich erfährt man: er ist Tierarzt in Kreiensen. Oder in irgendeiner der Städte, in denen es so viele Pensionate gibt, vielleicht in Lausanne oder Genf, trifft man ein Kind, ein rehzartes Mädchen mit Tränen in den großen, braunen Augen, und man erfährt: es hat Heimweh, Heimweh nach Kreiensen.
     Gibt es das? Wenn Kreiensen aber doch nur der Schnittpunkt zweier D-Zugstrecken ist ...
     Sollten diese Zeilen einem Kreienser (siehe oben) zu Gesicht kommen, so möge er sich aufgefordert fühlen, mich brieflich zu belehren, was es mit Kreiensen für eine Bewandtnis hat.
     Kreiensen? Ach, Kreiensen ist ja nur ein Beispiel, und vielleicht gar nur ein Symbol. Da sind noch Uelzen und Bebra und Elm, Attnang und Turgi, Treuchtlingen, Osterburken, Buchloe und Troisdorf. Schreibt mir alle, ihr, die es angeht!
     Und wenn ich es selbst einmal wagte? Wenn ich in Kreiensen ganz einfach ausstiege und einen Zug überschlüge? Welche Schicksale würden mich erwarten? Liegt nicht vielleicht gerade hier der Abstieg zur Unterwelt, der Eingang ins Land der Träume, der Nebel, seligkeitstrunkener Melancholien? Oh, vielleicht Abenteuer, unausdenkbare Geschehnisse, kleine Dinge von schreckhafter Süße, von unsäglich rührender Lieblichkeit und Trauer ...
     Ach, ich werde nie in Kreiensen einen Zug überschlagen. Und wenn ich dort einmal Aufenthalt habe, werde ich den Wartesaal rıicht zu verlassen wagen. Lieber werde ich mich still betrinken, einsam und von fremden Schauern durchrüttelt, als daß ich mich vom Tische rührte und auch nur einen einzigen Blick aus dem Fenster auf den geheimnisvollen Ort würfe. Und nicht wahr, ihr alle, deren Blick vielleicht auf diese Sätze fällt, du Tierarzt von Kreiensen, du Kaplan von Osterburken, du Briefmarkensammler von Turgi, du Schulmeister und heimlicher Versemacher von Attnang und du süßes, blondes Mädchen von Bebra, nicht wahr, ihr werdet mir nicht schreiben? Wenn ihr je diese Zeilen lesen solltet, so lächelt und denkt, es liege in eurer Macht, der immer grauer, immer erforschter, immer erstiegener und immer überflogener werdenden Welt ein Stück Geheimnis, ein Stück Traum, ein Stück Mythos zu bewahren. Und wenn das plötzliche Halten des Zuges mich nachts aus Wirren Halbträumen jäh aufschrecken läßt, Trillerpfeife und scharfe Kondukteursrufe, verworrenes Gesumm hastiger Menschenstimmen, das Weiß greller Bogenlampen und das bonbonfarbene Aufglimmen roter und grüner Lichtsignale schmerzhaft und süß in mein aufgestörtes Herz stürzen, dann will ich an euch denken, euch danken, mich euch dunkel verbunden fühlen unter dem Anhauch des Unbekannten und wissen, daß es unser Los ist, immer und ewig vorbeizufahren, wo uns ein geheimnisvoll vertrauter Name zum Bleiben und Erkennen lockt.
 
 
Werner Bergengruen (aus: Badekur des Herzens)


Werner Bergengruen lebte von 1892 bis 1964. Er hinterließ ein umfangreiches Werk in Lyrik und Prosa. Mit der freundlichen Erlaubnis der Werner Bergengruen-Gesellschaft, die auch die Erben Bergengruens vertritt, dürfen wir Texte aus seinem Œuvre veröffentlichen.