Zum Staunen
Ernst Peter Fischer zu großen Figuren
und großartigen Meilensteinen der Wissenschaften
Ist das ein Roman? Also gewiß kein Ritter- oder Kriminalroman. Es handelt sich eher um ein als Bildungsroman getarntes Sachbuch, in welchem Ernst Peter Fischer, geschätzter Essayist der Musenblätter, Schule, Bildung, Universität, Naturwissenschaft, Schriftstellerei und sein eigenes Leben aufs Korn nimmt. Die fiktiven Elemente dieser komplexen Erzählung der Physik bestehen darin, daß der Autor nachts im Traum Einstein und Co. trifft und sich seine Fragen nach den Grundlagen der Physik beantworten läßt. Einstein legt verständlich und unterhaltsam los, erzählt von schwebenden Lichtpartikeln bei Isaac Newton zu Beginn des 18. Jahrhunderts und vom Licht als Welle 200 Jahre später. „Zum Raum wird hier die Zeit“ meinte schon Gurnemanz in Wagners Parsival. Wenn aber Einstein später dann von gekrümmter Raumzeit spricht und damit die Apriori-Kategorien Immanuel Kants überholt, dann ist das mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand auch nicht ohne weiteres zu verstehen. Da schwindet die Eindeutigkeit der Wissenschaft und selbst die Elektronen verhalten sich dank ihres Spins zweideutig. Wieso sich also in den „kleinsten Teilchen der Natur Vernunft“ manifestiert, hätte Einstein weiter erläutern müssen.
Daß aber die Beschäftigung mit der Naturwissenschaft und ihrer Geschichte faszinieren kann, das vermittelt der sachkundige Autor in klarer, eleganter Sprache, wenn er sprachverliebt seine Autobiografie schreibt und diese mit persönlichen Begegnungen wichtiger Wissenschaftler und daraus resultierenden Einsichten und einer eigenen Ballade (Angst und Gentechnik) würzt bzw. strukturiert. Daß er die immense wissenschaftliche Schriftstellerei (mehr als 80 Bücher in 45 Jahren) nach dem Physikstudium mit Promotion am Caltec zunächst als Hausmann seiner erfolgreichen Ehefrau mit zwei kleinen Kindern beginnen und über Jahrzehnte erfolgreich verfolgen konnte, erstaunt. Den Wunsch des Doktorvaters Max Delbrück, dessen Biografie zu schreiben, hatte er nicht abschlagen können und wollen. Mit breitem Überblick über die Geschichte der Naturwissenschaft legt Fischer im vorliegenden schmalen Band sozusagen nebenbei eine kurze Geschichte der Physik für die Westentasche vor, in der er Einstein schon vor Jahren untergebracht hatte (E.P. Fischer „Einstein für die Westentasche“ bei Piper). Daß Physik und Naturwissenschaften zu Luxus und Wohlergehen in Europa und den USA geführt haben, leuchtet ein bei der Betrachtung der Entwicklung der Elektrizität von den galvanischen Zuckungen des Froschmuskels vor mehr als 200 Jahren bis hin zur vollständigen Elektrisierung mit Kühlschrank, Wasch- und Spülmaschine, Smart Home und der E-Mobilität mit Eisen-, U- und Straßenbahn sowie Elektroauto. Nicht überall verlief die Elektrifizierung völlig unproblematisch, denkt man an die Elektrifizierung der Sowjetunion unter Stalin.
Und welche Voraussetzungen zum Bau heutiger Smarttelefone notwendig sind bis hin zur Quantenphysik des Lichts ahnt der durchschnittlicher Handynutzer nicht. Für den durchschnittlichen Leser dieser Erzählung der Wissenschaftsgeschichte wird auch der immer wieder zitierte Zusammenhang zwischen Atomphysik, Genetik, dem Darwinschen Evolutionsgedanken und der Romantik weiter erläuterungsbedürftig bleiben. Denn in die kulturgeschichtliche romantische Epoche Schuberts, E.T.A. Hoffmanns und Novalis fielen zwar bedeutende Entdeckungen der Physik. Ob aber mit dem kurzen Satz „es gibt nur Bewegung“ die Romantik erschöpfend beschrieben werden kann? Daß die Romantik etwas mit der Entropie des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik (zunehmende Unordnung bis zum Wärmetod) zu tun hat ist zumindest äußerst anregend. Da schwinden die Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie und Fischer ist in seinem Element, wenn er Erkenntnistheorie und Physik bis hin zu den philosophischen Kategorien von Nicolai Hartmann aufdröselt.
Liebevoll amüsant, sachkundig und polemisch rechnet der Autor mit dem Begriff sogenannter Bildung und den Institutionen ab, die sich um deren Vermittlung bemühen, spricht von der Bildungskatastrophe der 60er, der Suhrkampkultur jener Zeit, dem Gerede der Soziologen, dem Verfall des Gymnasiums und der Universität, die politisch unaufhaltsam auf ihrem Weg zu Berufsschulen politisch gemeuchelt wurden und noch werden, wobei man damals noch glaubte, auf eine gewisse Bildungsreserve zurückgreifen zu können. Dabei bietet der Autor selbst ein Beispiel, welche Bedeutung Schule und Lehrer haben können und für ihn selbst hatten.
Auf das Problem der Verantwortung der Wissenschaften hat u.a. Carl Friedrich von Weizsäcker 1980 hingewiesen. Fischer fürchtet, daß reine Wissenschaft ohne ästhetische Dimension ihre Humanität verlieren kann, und hofft beim Dreiklang von Wissenschaft, Humanität und Kunst auf eine bessere Welt. Zunehmende Korruption und Fälschungen in der Wissenschaft, die Untaten Europas bei der Entwicklung von Kultur und Wissenschaft (Sklavenhandel, koloniale Ausbeutung des Planeten), die Bedrohung der Erde durch Atomkraft und Emissionen aller Art hat der Autor nicht im Sinn, auch nicht die Frage, ob das Erkennen der Natur und des Seins, ob Physik und Erkenntnistheorie vielleicht besser durch „Ethik als erste Philosophie“ (Emmanuel Levinas) also um eine moralische Dimension zumindest ergänzt werden sollte.
Der jedenfalls überaus anregende Text wird ergänzt durch ein alphabetisches Verzeichnis erwähnter Wissenschaftler mit kurzen Angaben zu Biographie und Werk sowie durch eine nach Kapiteln erstellte Literaturliste mit Anregungen zum Weiterlesen.
Ernst Peter Fischer – „Von einem, der auszog, das Staunen zu lernen“
Große Figuren und großartige Meilensteine in der Geschichte der Wissenschaften.
Roman
© Der Herausgeber, exklusiv lizenziert an Springer-Verlag, 209 Seiten, broschiert - ISBN978-3-662-68521-1 (bzw. ISBN 978-3-662-68522-8 als eBook)
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