Zerstreuungen

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Zerstreuungen
 
Um genauer zu verstehen, was sich mit Hilfe der Sonnenstrahlen über den Köpfen der Menschen und unter dem Himmel abspielt, brauchte es einen Nobelpreisträger für Physik, den Engländer John William Strutt, der in seiner Heimat als 3. Baron Rayleigh bekannt ist. 1904 durfte er nach Stockholm kommen, um die hohe Auszeichnung aus den Händen des schwedischen Königs entgegenzunehmen. Man ehrte seine theoretischen Einsichten in die Streuung, die elektromagnetische Wellen an den Sauerstoff- und Stickstoffmolekülen erfahren, die zur Erdatmosphäre gehören. Bei diesem Prozess hatte der Lord eine Besonderheit bemerkt. Seine theoretischen Überlegungen zeigten, daß die Streuung des Lichtes an den Bestandteilen der gasförmigen Hülle, die um den von Menschen bevölkerten Himmelskörper liegt, abhängig von der Frequenz der Strahlen war, und zwar massiv abhängig.
     Mit den Frequenzen der Wellen wird angegeben, wie häufig das elektromagnetische Lichtgebilde hin und her oder auf und ab schwingt. Zum Glück besteht ein einfacher Zusammenhang zwischen der Länge einer Welle und ihrer Frequenz. Je kürzer das eine, desto höher das andere, und je länger das Erste, desto niedriger das Zweite. Wenn rotes Licht eine längere und blaues Licht eine kürzere Wellenlänge aufweist, heißt das umgekehrt, daß rotes Licht über eine niedrigere und blaues Licht über eine höhere Frequenz verfügt, und das bringt Folgen mit sich.
     Denn Lord Rayleigh kann zeigen, daß die Intensität des von den Molekülen am Himmel zurückgeworfenen und abprallenden Lichtes proportional zur vierten Potenz seiner Frequenz ist. In die Sprache des Alltags übersetzt: Dank seiner Streuung in der Atmosphäre dominiert das sichtbare Licht mit der höchsten Frequenz - also das Blau - alle anderen. Mit diesem leider wenig anschaulichen Mechanismus erklärt die Wissenschaft das eindrucksvolle Azur oder die entzückende Himmelsbläue eines schönen Sommertages und letztlich auch die Tatsache, daß die Erde auf Aufnahmen aus dem Weltall als Blauer Planet vor einem schwarzen Himmel zu sehen ist (wobei das Schwarze des Weltraums erst im nächsten Kapitel erklärt wird). Das heißt, die Theorie der Rayleigh-Streuung erlaubt es, neben dem kalten Blau auch das warme Abendrot zu verstehen, da das Licht, das die Menschen in der Dämmerung erreicht, zu der späten Tageszeit eine längere Wegstrecke durch die Erdatmosphäre zurücklegen muß. Auf dieser Reise durch die Luftschichten wird der hochfrequente blaue Teil abgelenkt und weggestreut, was dazu führt, daß das kurzwellige Rot mit seinen orangenen Tönen übrig bleibt. Am Mittag dagegen ist der Weg des Lichtes von der Sonne bis in das Auge des Betrachters so kurz, daß das Blau nur wenig abgelenkt wird. Die Theorie erlaubt zugleich zu verstehen, wie die Sonne ihre gelbe Farbe bekommt. Das bißchen Blauverschwinden reicht dazu aus. Wer in einem Flugzeug unterwegs ist und sich hoch über der Erde befindet, für den werden weniger Blauanteile abgelenkt. Das verleiht dem durch das Fenster betrachteten Zentralgestirn ein weißeres Aussehen, wie vielen Flugreisenden sicher aufgefallen ist. → (...)
 
 
© Ernst Peter Fischer
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
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Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.