Winter auf dem Semmering

Eine neue Liebe...

von Peter Altenberg

Foto © Frank Becker

Winter auf dem Semmering

Ich habe zu meinen zahlreichen unglücklichen Lieben noch eine neue hinzubekommen --- den Schnee! Er erfüllt mich mit Enthusiasmus, mit Melancholie. Ich will ihn zu nichts Praktischem benützen, wie Schierngleiten, Rodeln, Bobfahren; ich will ihn betrachten, betrachten, betrach­ten, ihn mit meinen Augen stundenlang in meine Seele hinein trinken, mich durch ihn und vermittels seiner aus der dummen, realen Welt hinweg flüchten in das soge­nannte »weiße und enttäuschungslose Zauberreich« .Jeder Baum, jeder Strauch wird durch ihn zu einer selbständi­gen Persönlichkeit, während im Sommer ein allgemeines Grün entsteht, das die Persönlichkeiten der Bäume und Sträucher verwischt. Ich liebe den Schnee auf den Spitzen der hölzernen Gartenzäune, auf den eisernen Straßenge­ländern, auf den Rauchfängen, kurz überall da am mei­sten, wo er für die Menschen unbrauchbar und gleichgül­tig ist. Ich liebe ihn, wenn die Bäume ihn abschütteln wie eine unerträglich gewordene Last, ich liebe ihn, wenn der graue Sturm ihn mir ins Gesicht nadelt und staubt und spritzt. Ich liebe ihn, wenn er in sonnigen Waldlachen zerrinnt, ich liebe ihn, wenn er pulverig wird vor Kälte wie Streuzucker. Er befriedigt mich nicht, ich will ihn nicht benützen zu Zwecken der süßen Ermüdung und Erlösung, ich will nicht kreischen und jauchzen durch ihn, ich will ihn anstarren in ewiger Liebe, in Melancholie und Begei­sterung. Er ist also eine neue letzte »unglückliche Liebe« meiner Seele!

Peter Altenberg