Menschen im Einklang mit der Natur

Zu Otto Muellers 150. Geburtstag

von Jügen Koller

Otto Mueller - Am Ufer sitzendes Mädchen, Akt im Schilf
Menschen im Einklang mit der Natur
 
Zum 150. Geburtstag von Otto Mueller
 
Natürlich nackt“, wie die Kunsthalle Emden im Jahr 2016 ihre Sommerschau zum Werk Otto Muellers nannte, implizierte zwei Sinngehalte zugleich - zum einen verweist es darauf, daß Akte unabdingbar zum Sujet des Brücke-Künstlers Otto Mueller gehören und zum anderen spielt es auf die Natur als wesentlichen Bildgegenstand des Künstlers an. Die Kunsthalle Emden besitzt neben dem prominenten Gemälde „Knabe vor zwei stehenden und einem sitzenden Mädchen (1918/19) noch sechs wertvolle Papierarbeiten von Otto Mueller. Der am 16. Oktober 1874, heute vor 150 Jahren im schlesischen Liebau (Lubawka, Polen) als Sohn eines Steuerbeamten und ehemaligen Offiziers geborene Otto Mueller lernte Lithograph und studierte einige Jahre in Dresden und eine kurze Zeit in München. Erst unter dem Einfluß der Brücke-Künstler, die er 1910 in Berlin kennenlernte, fand er zu seinem expressiven Stil, der sich aber im Gegensatz zu seinen Künstlerkollegen durch einen gewissen Anflug von Lyrismus auszeichnet. Auch Mueller verfolgte das künstlerische Ziel einer Abkehr vom herkömmlichen Stil der Akademien und das Finden neuer künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Doch nimmt er in der Künstlergemeinschaft Brücke, deren Mitglied er wurde, eine Sonderstellung ein: Er ist merklich älter – zehn Jahre gegenüber Karl Schmidt-Rottluff und sechs Jahre gegenüber Ernst Ludwig Kirchner – und er ist „still, sanft, versonnen und gilt als Träumer und Romantiker, der die Ruhe und Harmonie sucht und den das Laute, Aggressive und Ekstatische eher schreckte“. Weltliche, urbane oder gesellschaftskritische Themen waren für ihn uninteressant, er suchte in „seiner Kunst zeitlebens den paradiesischen Urzustand des Menschen im Einklang mit der Natur“.



Otto Mueller, Zwei Mädchen in den Dünen - Brücke Museum
 
Akte in der Natur, die den Menschen unverfälscht darstellen sollen, begannen in diesen Brücke-Jahren zentrales Darstellungsthema zu werden. Während der Aufenthalte an den Moritzburger Seen und an der Ostsee, zusammen mit Erich Heckel und Kirchner, malte Mueller viele Variationen dieses Themas. In seiner Farbpalette herrschen Grün-, Gelb- und Ockertöne vor. „Er brachte uns die Leimfarben“, schreibt Ernst Ludwig Kirchner in der Chronik der „Brücke“ 1913. Diese Leimfarben auf ungrundiertem Rupfen (grober Sackleinen) sind sehr fragil und treiben Konservatoren den Angstschweiß auf die Stirn. Betrachtet man die Gemälde von Nahem, wird die brüchige Struktur des Farbauftrags deutlich. In den Aquarellen und den mehrfarbigen Lithografien wird die sichere Linienführung der Körper deutlich, so in „Mädchen im Dünengras“ (1925). Charakteristisch ist, daß die Körper oftmals kaum das Geschlecht erkennen lassen. Die jungen Mädchen im Gemälde „Zwei badende Mädchen“ (1921) in ihrer kantigen, schmalen und eckigen Körperlichkeit sind völlig unsexy, nicht einmal erotisch zu nennen, so ist es bei fast allen Akt-Darstellungen. Bei Otto Mueller steht stets die angestrebte Einheit von Mensch und Natur im Vordergrund. Gesichter und Köpfe geraten ihm deshalb öfters zu Stereotypen, ähnlich der Körperhaltungen beim Liegen, Sitzen und Stehen. Aber gerade deshalb wird nachvollziehbar, daß es, wie Mueller es zusammenfaßte, das „Hauptziel meines Strebens ist, mit größtmöglicher Einfachheit die Einheit von Landschaft und Mensch auszudrücken“.


Otto Mueller, Zwei Mädchen im Schilf

Im Jahre 1919 wurde Otto Mueller eine Professur von der Staatlichen Akademie für Kunst und Gewerbe in Breslau angetragen, die er bis zu seinem Tod inne hatte. Seinem unangepaßten Lebensstil, seiner Abkehr vom Bürgerlichen entspricht es, daß der Künstler sich in den Jahren von 1924 bis 1929 für die Lebensweise der Roma auf dem Balkan interessiert und von diesen Menschen akzeptiert, sogar in deren Familien integriert wird. Aus diesen Jahren sind Werke, vor allem Lithographien bekannt, die voller Melancholie und Sehnsucht sind, aber auch mit lebendiger Kraft das karge Leben dieser Menschen künstlerisch dokumentieren. Daraus resultiert sein Ehrenname „Zigeuner-Mueller“. Im Jahre 1930 stirbt Otto Mueller in Breslau an den Folgen einer Lungenentzündung.

Zur Provenienz des Bildes „Knabe vor zwei stehenden und einem sitzenden Mädchen“ (1918/19):

Otto Mueller, Knabe vor zwei stehenden und einem sitzenden Mädchen
Das Bild stammt ursprünglich aus der Expressionisten-Sammlung des jüdischen Rechtsanwaltes Ismar Littmann aus Breslau, der sich, dem politischen und wirtschaftlichen Druck der Nazis nicht mehr gewachsen, 1934 das Leben nahm. Seine Witwe gab dieses Bild und weiteres Sammlungsgut 1935 zu dem Berliner Auktionator Max Perl, um aus dem Erlös die Ausreise ihrer Töchter in das Exil zu finanzieren. Zwei Tage vor der Versteigerung beschlagnahmte die Gestapo das Bild und weitere expressionistische Arbeiten und übergab selbige der Nationalgalerie Berlin. Das Bild wurde 1937 als im Besitz der Nationalgalerie befindlich in der Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“ in München gezeigt. Henri Nannen erwarb das Bild 1979 im Kunsthandel für seine Sammlung, seit 1986 wurde es in der Emdener Kunsthalle gezeigt. Nannen war davon ausgegangen, daß es vormals im Eigentum der Nationalgalerie gewesen sei. Im Jahre 1998 war in einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom Schicksal der Sammlung Littmann zu lesen. Davon erhielt die Stiftung Henri und Eske Nannen, Trägerin der Kunsthalle Emden, Kenntnis. Ein Jahr später wurde das berühmte Werk an die Erben von Ismar Littmann restituiert. Die Stiftung erhielt die Möglichkeit, mit Hilfe öffentlicher und privater Spender das Bild zurückzukaufen, um es für die Kunsthalle Emden und für die Öffentlichkeit zu erhalten. Eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung spielte dabei die Kulturstiftung des Landes Niedersachsen; es ist von einem Millionen Betrag für den Rückkauf die Rede.
 

Publikation:
„Otto Mueller – Monografie“
Text von Christiane Remm, Hrsg.: Magdalena M. Moeller
© 2014 Hirmer Verlag / Brücke-Museum Berlin, 144 Seiten, gebunden, 111 Abbildungen, überwiegend in Farbe – ISBN:  9783777423333
34,80 €