Wiedergelesen aus schlimmem Grund:

„Moscoviada“ - Roman des ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch von 1992

von Michael Zeller

Wiedergelesen aus schlimmem Grund

Moscoviada“

Roman des ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch von 1992
 
Der westukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch ist mittlerweile mit seinen Romanen und Gedichtbänden ein international anerkannter Autor. Gerade auch in Deutschland wurde und wird er mit renommierten Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2022 mit dem Heine-Preis der Stadt Düsseldorf.
Auch in Wuppertal hat er bereits gelesen, bei der dritten Literaturbiennale 2016, zusammen mit seinem Charkiwer Kollegen Serhij Zhadan.
Durch den Krieg, den Rußland im Februar 2022 in die Ukraine, sein westliches Nachbarland, hineingetragen hat, haben alle ukrainischen Künstler in westlicheren Gefilden endlich das ihnen zukommende Interesse gefunden, das vorher sträflicherweise eher gegen Null tendierte.
 
Dabei ist Jurij Andruchowytsch einem deutschen Lesepublikum bereits seit 2003 ein Begriff. Mit dem Essayband „Das letzte Territorium”, bei Suhrkamp erschienen, legte er damals vielleicht die erste geistig-politische Vermessung seines Landes in literarischer Form vor. Es folgten mehrere Romane, als dritter „Moscoviada“. Dieser Roman ist vor über dreißig Jahren geschrieben worden, 1992, und spielt, wie der Titel nahelegt, in Moskau. Geschrieben aber wurde er in Deutschland, am Starnberger See.
Eine spannende Geschichte und ein Grund, sich den Roman, gerade auch im Angesicht dieses sprachlos machenden Krieges, noch einmal vorzunehmen.
Zwei Jahre lang, 1989 bis 1991, verbrachte der junge ukrainische Autor in Moskau, am Gorki-Literaturinstitut, wo der literarische Nachwuchs des kommunistischen Machtbereichs jahrzehntelang gedrillt wurde. Das war allerdings eben jene Zeit, in der dieses Imperium sichtbar auseinanderfiel. Im Postscriptum (von 2006) zu seinem Roman schreibt der Autor: „Moskau war Zentrum des Imperiums und seines Untergangs zugleich. In Moskau spürte man, daß es mit dem SYSTEM zu Ende ging. An den oppositionellen Kundgebungen nahmen damals zwischen hunderttausend und dreihunderttausend Menschen teil.” (Wo sind diese Massen heute geblieben, fragt man sich da …)
Als Andruchowytsch im Sommer 1991 Moskau verläßt und zurückkehrt in seine Ukraine, liegt eine Einladung nach Deutschland auf dem Tisch – sein erster Besuch im Westen! Da der Autor ein nahezu akzentfreies Deutsch spricht (seine Großmutter hatte ihm als Jungen geraten, Deutsch zu lernen), war er hier am rechten Ort.
Und so geschah es, daß im schönen Oberbayern „Moscoviada“ entstand, in dem Andruchowytsch die zwei Moskauer Jahre verarbeiten konnte vom zerscherbelnden Kommunismus.
 
Heute, mit den Erfahrungen dieses russischen Krieges, liest sich das Buch natürlich mit ganz anderen Augen als damals, zur Zeit seiner Entstehung.
Da ruft zum Beispiel ein russischer Jungschriftsteller des angesehenen Literaturinstituts Gorki aus, in angetrunkenem Zustand: „Ruhm den Sammlern der russischen Erde! Denn Rußland ist überall dort, wo wir sind! Und wir sind überall! Wir alle sind Rußland! Du bist Rußland! Dieses Rußland ist alles! Wir besorgen es ihnen mit unserer Rute!”
In diesen besoffenen Worten steckt die Begründung für die Habgier Putins nach der Ostukraine. Konnte das seinerzeit jemand ahnen?
Daß der ukrainische Jungschriftsteller Otto von F., Hauptfigur von „Moscoviada“, sich von da an Sorgen um die Zukunft seines Landes und seines Volkes macht und – um 1990! - für die „völlige und endgültige Loslösung der Ukraine von Rußland” eintritt, liegt allzu nahe.

Ebenso auch seine Wuttirade auf Moskau als Herz der kommunistischen Zwangsherrschaft - Moskau als „Vorposten des Ostens zur Eroberung des Westens. Die letzte Stadt Asiens, vor deren betrunkenen Alpträumen alle germanisierten Monarchen panisch flohen, Stadt des bolschewistischen Empire, der vielstöckigen Volkskommisariats-Ungetüme, unterirdischen Geheimgänge, Stadt der Konzentrationslager, wo die Einwohnerschaft der Gefängnisse so groß ist wie eine ganze europäische Nation. Es wäre gut, sie dem Erdboden gleichzumachen.”
 
Es wäre gut, Moskau dem Erdboden gleichzumachen – ein krasses Wort! Dieser Haßausbruch, der sich vor dreißig Jahren am idyllischen Starnberger See ereignet hat, gewinnt heute, nach dem Hinmorden zehntausender ukrainischer Menschen, nur weil sie keine Russen werden wollen, seine schmerzliche Rechtfertigung.
 

Michael Zeller