Im Reich der Sinne und der Guillotine

von Wendelin Haverkamp

© Jürgen Pankarz
Im Reich der Sinne 
und der Guillotine
 
Das Auge ißt mit, heißt es gerne, aber was ist mit den Ohren? Wo liegt ihr Stellenwert im gastronomischen Gesamtprozeß auch und gerade in der feinen Küche, ganz zu schweigen von der Nase, deren jeweils eine ja nicht nur der Küchenmeister, sondern auch der Gast besitzt?
Da gibt es Sterne-Restaurants, in denen werden alle Sinne beglückt, phantastisch! In Frankreich beispielsweise, man besucht sie ganz besonders gerne in der Urlaubszeit. Sie haben weinrote Sitzpolster mit elegant verteilten, antiken Lochstrukturen, sagen wir mal: Mitte 18. Jahrhundert, und verfügen über die indirekte Beleuchtung der höchsten Diskretionsstufe, das heißt, man nimmt sie nur wahr am Geräusch der Motten, die von der Terrasse kommend in sie hineinfliegen. Motten haben ja Augen wie Adler.
     Das Menu ist umfangreich und die Bedienung gleichbleibend freundlich desinteressiert, was alles nicht der Erwähnung wert wäre, aber wie so oft hat sich etwas in mein Gehör gebrannt, was die Augen längst vergessen hätten, was sollen sie auch machen, sie hören ja nix.
     Wie ich es seinerzeit einem für das Ein- und Ausparken der Gästefahrzeuge zuständigen Mitarbeiter, nachdem ich meinen Autoschlüssel endlich wiederhatte, zusammenfassend zu beschreiben suchte: Essen und Service soweit durchaus gut, will sagen mitteleuropäisch konkurrenzfähig, wenn man bedenkt, daß nach Maastricht III auch Nowgorod im Herzen Europas liegen wird, doch überragend, will sagen unüberhörbar exzeptionell sind die akustischen Verhältnisse.
     Unser Tisch befand sich unmittelbar neben der Rezeption des zum gleichen Hause gehörenden Hotels. Kein übertriebener Komfort, halt ein Restaurant-Hotel, man bucht das kleine, unambitionierte Zimmer nicht eigentlich zum Schlafen, sondern um nach dem Essen nicht mehr fahren zu müssen. Sie kennen das, doch für uns war es eine Premiere - in einer Telefonzentrale hatten wir noch nie gegessen.
     Wo kann man schon erleben, daß in der knappen Zeit zwischen der amüsierten Keule in Gestalt eines frisierten Salates und den frischen Nudeln mit steinigen Pilzen 2 DZ, 2 EZ und zwei DZ als EZ sowie 1 Appartement mit Küchenecke vermietet werden, und das für eine Nacht, was ja verhieß, daß die akustische Gestaltung des morgigen Menus gesichert war.
Ein amüsantes Vorspiel für das Reich der Sinne, werden Sie sagen, im Vergleich zu Candlelight-CD-Samplern geradezu hinreißend, werden Sie sagen, aber bitteschön, gestatten Sie mir eine weiterführende Frage zum Nasen-Ohren-Komplex im gehobenen Restaurantwesen, die sich ja leider niemand zu stellen traut im Mutterland der Guillotine:
     Ist es, nur mal so als Beispiel, dem Maitre des Hauses gestattet, bei weit geöffneter Küchentür - ich sagte Küchentür - dermaßen einen fahren zu lassen, daß im Restaurant die Coups de Champagne leise klirren und die älteren Damen rasch die Hand ans Hütchen legen eingedenk all der Stürme, die sie schon erlebt haben, und deren Entstehung sich so oft beim leisen Klirren von Champagnergläsern angekündigt hat?
     Oder nehmen wir einfach mal an, eine sechsköpfige Reisegruppe von den Tamilen, oder besser ein Ehepaar aus Frankfurt mit vier Kindern harrt nach dem schweren Hauptgang nun des Desserts in Form eines gewaltsam gestürzten Rhabarber-Plan, wahlweise auch einer demokratisch gewählten und ebenso riechenden Käseplatte, als aus dem Nebenraum, in dem man aufgrund des Bewegungsablaufes der Kellner die Küche vermuten darf, ein mordsmäßiger Nieser ertönt.
     Eine jener gewaltig befreienden Eruptionen, die deutlich hörbar werden lassen, daß da ein Mensch, und sei es nur für ganz-ganz kurz, schlagartig sehr-sehr glücklich ist: Ein Mensch, der abendein und abendaus die schwarze Mühle über Rohkost und Salaten drehend die ätherischen Öle des Pfeffers tief in die Atemwege hineinzuatmen gezwungen ist. Wäre es nicht naheliegend, diesem Menschen die knallende Befreiung seiner gereizten Schleimhäute einfach nur zu gönnen und als mitfühlender Gastronomie-Partner, der noch bei den Austern ist, die Austern Austern sein zu lassen, ggf. einfach in die Zitrone zu beißen und sich mitzufreuen: Frei! Endlich frei!
     Doch nein - der Mensch ist halt ein nörgeliger Neidhammel auf Erden. Was liegt da auf der Creme Catalan? Wackelt da was am Regenbogen-Wackelpeter? Und wer mag in den Profiterolles noch alles eingebacken sein? Als wär' ihm selbst nicht auch schon mal ein Härchen aus der Nase, eben!
     Fasse zusammen: Darf der Maitre in der großen Küche, der besternte Meister, tätig für uns am Herd, bei Ausübung des schweren Amtes lauthals einen fahren lassen? Antwort: Im Prinzipe ja. Solange er dabei nicht niesen muß.

 
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003
Die Illustration stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.