Urnebel, Klangmassen, durchbrechender Kontrapunkt

Rüdiger Görner – „Bruckner - der Anarch in der Musik“

von Johannes Vesper

Anarch in der Musik
 
Zum 200. Geburtstag Anton Bruckners
 
Er war ein sehr guter Tänzer, ein passionierter Schwimmer und las Partituren wie andere Romane. Von der Ausbildung her zunächst Hilfslehrer, später Organist, wurde er als solcher in Europa mit seinen Orgelimprovisationen berühmt, spielte die Orgel in Nancy, in Paris in Notre Dame vor der versammelten französischen Musikelite, in der Londoner Albert Hall vor 5000 und im Crystal Palace von Sydenham vor 70.000 Zuhörern. Bedauerlicherweise sind seine Improvisationen nicht erhalten und nur wenige Orgelwerke gedruckt. Gerne hätte ich seiner Improvisation über Themen seiner 8. Sinfonie und Motiven aus der „Götterdämmerung“ gelauscht.
Als Komponist hatte er zunächst Erfolge mit seinen Chorwerken und mit dem abstrusen „Germanenzug“ (1863/64), einer patriotisch- nationalistischem weltlichen Kantate. Das war sein erstes publiziertes Werk und er 39 Jahre alt. Sein kompositorisches Ende bestand im sinfonischen Männerchor „Helgoland“, ein Auftragswerk des Wiener Männergesangvereins, dachte man doch in Wien gerne an das im deutsch-dänischen Krieg letzte Seegefecht mit Holzschiffen unter einem österreichischen Befehlshaber. Nach „Helgoland“ kam noch die unvollendete Neunte Sinfonie.
 
Sein Leben spielte sich ab in Linz und Umgebung (Ansfelden, St. Florian, Domorganist und Chordirigent 1856-1868 am Linzer Dom) und ab 1868 in Wien. Dem Ortswechsel nach Wien voraus ging ein gesundheitlicher Zusammenbruch mit Tränenausbrüchen, zunehmendem Zählzwang. Er zählte Pflastersteine, Blätter in Bäumen, Fenster in Fassaden u.a. mehr. Unter monatelangen Kaltwasserkuren in Bad Kreuzen 1867/68 stabilisierte sich sein Gesundheitszustand wieder.
In Wien hatte er den Tod seiner Schwester zu verkraften, die ihm den Haushalt geführt hatte. Das Salär als Lehrer für Komposition (Nachfolge seines Kompositionslehrers Sechter) am Wiener Konservatorium reichte hinten und vorne nicht. So unterrichtete er, um seine Finanzen aufzubessern, 30-40 Wochenstunden als Hilfslehrer für Musik an der k.u.k. Lehrerinnenbildungsanstalt St. Anna. Wien erlebte zu dieser Zeit einen ungeheuren Bauboom und die Weltausstellung 1873, zu der Johann Strauß die Langenbachsche Kapelle aus Elberfeld geholt hat, obwohl die Strauß-Dynastie mit ihrer Walzerseeligkeit Triumphe feierte. In solchem Umfeld ließ der Erfolg des Komponisten Bruckner auf sich warten. Er schien als kompositorischer „Spätling“ bezüglich publizierter Werke ein Versager gegenüber Johannes Brahms zu sein, der gleichzeitig in Wien mit Kammermusik zusätzlich bürgerliche Bedürfnisse befriedigte. Selbstunsicher, im Visier des scharfzüngigen Kritikers Eduard Hanslick, der an seiner Musik kein gutes Haar ließ, korrigierte Bruckner seine Kompositionen immer wieder.
 
Die Biographie von Görner hat ihre Stärken in sprachlich-interpretatorischen Äußerungen über Musik. Seine Kommentare zu Geschichte und Politik der Zeit zeugen von beeindruckendem Überblick über Europas Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, erinnernd an Egon Friedell. Eine tabellarische Übersicht über Leben und Werke würde die Orientierung noch erleichtern.
Bruckner war 1873-1892 insgesamt siebenmal in Bayreuth ist dort einmal sogar musikalisch aufgetreten (als Organist bei der Totenfeier für Franz Liszt). Er trug das Foto Richard Wagners wie das seiner toten Mutter immer bei sich. Cosima sprach vom armen Organisten Bruckner. Finanziell kam er erst ab 1880 über die Runden, als er als Professor an der Wiener Universität ein konstantes und ausreichendes Salär erhielt.
 
Welcher Eindruck bleibt von Anton Bruckner nach der Lektüre dieser Biographie? Vorgealtert erscheint der Einzelgänger, eigenbrötlerisch, schlecht gekleidet, merkwürdig devot, in seinen Briefen eigentümlich gestelzten Ausdrucks gegenüber Frauen. Zu keiner hat er eine längere stabile Beziehung aufbauen können. Der 22 Jahre jüngeren Katharina Kachelmaier verdankte er immerhin „schmackhafte Knödel und lebenspraktische Kontrapunktik“ bis zu seinem Tod. Bei seinem Besuch in Berlin verliebte sich der 70jährige 1894 ein letztes Mal, und zwar in die 17jährige Ida Buhz. Er wollte sie heiraten, ließ sich von ihr aber dann doch nur zum Scherzo seiner Neunten inspirieren. Er verehrte den nach der Körpergröße gleich kleinen Richard Wagner, mochte Franz Schubert, vielleicht aber auch nur dessen Schädel, den er bei dessen Exhumierung 1863 intensiv liebkost hat.
 
Von „trotziger Bescheidenheit“ hatte der Star auf der Orgelbank als Dirigent keinen Erfolg. Für die letzten Monate seines Lebens, als man ihn wegen seiner zunehmenden Herzschwäche in die Konzerte tragen mußte, verschaffte ihm der Kaiser eine komfortablere Wohnung im Belvedere, dem herrlichen Palast Prinz Eugens. Anarch der Musik? Jedenfalls ein markanter Individualist, der sinfonisch die Luft der geliebten Orgel auf alle Holz- und Blechbläser verteilte, der mit Urnebel, Klangmassen, durchbrechendem konstruktivem Kontrapunkt und mit gespaltenem Grundton die Seele von der banalen Alltagswirklichkeit zu erlösen vermag. Sehr gut zu lesen, wird das Werk dem Musikliebhaber dringend empfohlen.
 
Rüdiger Görner – „Bruckner der Anarch in der Musik
© 2024 Paul Zsolnay Verlag, 1. Auflage, 381 Seiten, gebundenes Buch mit Lesebändchen - ISBN 978-3-552-07511-5
32,- €
 
Weitere Informationen: www.hanser-literaturverlage.de/