Das Verlangen nach Astrologie
Die ersten Menschen, die ihren Blick an den Himmel richteten, haben weniger nach Gesetzen und mehr nach Orientierung gesucht - nicht nur nach einer Orientierung für die Richtung, die sie bei ihren Jagdunternehmungen einschlagen sollten, sondern neben der Orientierung für den jeweiligen Tag auch nach einer für ihre Lebensreise. Es ging den Sinnsuchenden früher vermutlich darum, die Konfigurationen, die sich am Firmament ausmachen lassen, zu deuten und als Hinweise für das Ganze ihres Daseins zu nutzen. Mit anderen Worten, Menschen haben zuerst einmal Astrologie betrieben. Diese Beschäftigung mit den Sternen erfreut sich bis heute großer Beliebtheit, ohne daß es die Astrologie als Disziplin jemals zu akademischen Ehren gebracht und Platz an einer Universität gefunden hätte. Die Popularität dieser sinnlichen und für viele sinnvollen Art der Himmelsschau ist unübersehbar, und wer fragt, warum das so ist, wird sich für den Hinweis interessieren, daß Historiker und Philosophen eine Periode in der Geistesgeschichte der Menschheit ausgemacht haben, die sie Achsenzeit nennen und in der Homo sapiens eine zweite Art von Wirklichkeit entdeckt hat: eine jenseitige Welt neben der diesseitigen, eine transzendente neben der immanenten Sphäre.
Als „Achsenzeit“ hat der Philosoph Karl Jaspers die Jahrhunderte zwischen 800 und 200 vor Christi Geburt bezeichnet, in der die Upanischaden entstanden, in Palästina die Propheten auftraten und Griechenland Dichter wie Homer und Philosophen wie Parmenides, Heraklit und Plato hervorbrachte. Und das ist nur eine Auswahl aus dem ungeheuren Geschehen dieser Umbruchsphase, in der ein mythisches Verstehen der Welt durch eine Reflexion der Grundbedingungen jeder menschlichen Existenz abgelöst wurde. Dazu gehörte die Akzeptanz einer jenseitigen (transzendenten) Sphäre, aus der man Botschaften für das Schicksal erwarten konnte, die den Erdenmenschen in Form von Sternzeichen gegeben wurden. Von nun an spielten Priester und Propheten im Leben der Menschen eine wichtige Rolle, weil sie sich die Aufgabe zutrauten, den eigentlich unzugänglichen Willen der Götter zu deuten, die über den Dingen schwebten.
So kam der Mensch zur Astrologie, von der der Dichter Stefan George einmal bemerkt hat, daß ihre Anhänger den Glauben an die Einheit der Kräfte übertrieben haben - ein Vorwurf, den Kritiker auch der modernen Wissenschaft machen. Möglicherweise findet sich in diesem Verlangen nach einem einheitlichen Zusammengehören die Erklärung für die seit Jahrtausenden ungebrochene Faszination, die von der Astrologie bis heute ausgeht: Wie kommt es, daß trotz aller Aufklärung 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in den westlichen Industrienationen einen Einfluss der Gestirne auf das menschliche Schicksal für möglich halten und etwa 25 Prozent von solch einem Einfluß sogar überzeugt sind?
Wer darüber hinweghuschen will und mit guten Gründen verkündet, daß Astrologie nichts anderes als eine falsche und unsinnige Theorie zur Erklärung nicht nachweisbarer Tatbestände sei, trifft bei Menschen auf taube Ohren, die an Horoskopen hängen und vertrauensvoll Sterndeutern mit ihren Glaskugeln lauschen. Ihnen gefällt, daß Astrologen schicksalhafte Geschichten erzählen, während Astronomen seelenlos Objekte zählen. Menschen möchten das Gefühl vermittelt bekommen, daß sie nicht allein und verloren in der unendlichen Leere und Weite des Kosmos umherirren, sondern von einer höheren Ordnung umsorgt werden und ihren Platz im Ganzen zugewiesen erhalten, auf dem sie dann demütig und dankbar ihre Existenz bestreiten.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Dies soll kein Plädoyer für irgendeine Art der Astrologie oder banale Formen der Sinnsuche sein. Diese Bemühungen von Menschen bekommen ihre Bedeutung nur im Verbund mit der Wissenschaft (die wiederum auch Platz und Bedarf für die anderen Aktivitäten schafft), und nur wer ihren komplementären Hintergrund kennt, sollte vorne auf der Bühne stehen und seine Rolle spielen. In dem Wort Horoskop steckt in griechischer Sprache die Aufforderung, eine bestimmte Stunde, die der Geburt, zu notieren und in den früher üblichen Darstellungen des Himmels ~ den Himmelskarten - zu verorten. Solche Karten stellen vor allem den Tierkreis - den Zodiak - dar, den zum Beispiel die zwölf bekannten Bilder ausschmücken, die jeder kennt oder kennen sollte: Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann und Fische. Diese Unterteilung ist auf einen Zeitpunkt zu datieren, der vor dem Jahr 500 vor Christi Geburt liegt. Mit anderen Worten, die Sternbilder und ihre Reihenfolge wurden vor mehr als 2500 Jahren festgelegt, und hier taucht in der Tat ein Problem auf. Zwar lassen sich die Bilder festhalten, nicht aber die Sterne, auch wenn sie nicht vom Himmel fallen. Es gehört zu den beliebten Hinweisen der auf Rationalität eingeschworenen und von wissenschaftlichen Argumenten besessenen Gegner der Astrologie, daß sich die ganze Konstruktion in den vergangenen Jahrtausenden um eine Einheit verschoben hat und ihre Zuordnungen unsinnig geworden sind und längst nicht mehr zutreffen.
Zuerst die wissenschaftliche Seite: Welche Sterne in welcher Anordnung zu sehen sind, hängt von dem Ort der Beobachter auf der Erde und von ihrer Bewegung im Laufe der Zeit ab. In erster Näherung vollzieht der Heimatplanet der Menschen drei Bewegungen: Er dreht sich um sich selbst, er kreist um die Sonne, und er läßt seine Erdachse um den Pol der Ekliptik rotieren. Das zuletzt genannte Kreisen nennen die Astronomen Präzession, und diese Bewegung ist die mit Abstand langsamste. Sie braucht rund 28 500 Jahre für einen Umlauf - im Gegensatz zu dem Tag und zu dem Jahr, das die ersten beiden Drehungen benötigen. Sowenig die Präzession im persönlichen Leben und individuellen Wahrnehmen eine Rolle spielt, so spürbar verschiebt diese sanfte Bewegung die Sternbilder, wenn man ihr Zeit genug gibt. Jedes Jahr rückt der sogenannte Frühlingspunkt ein winziges Stückchen vor, was nach vielen tausend und abertausend Tagen eine Inkongruenz der Sternbilder mit sich bringt. Tatsächlich steht an der Stelle, wo Astrologen den Widder sehen, das Bild der Fische, und entsprechend sind alle übrigen Bilder weitergewandert.
Jetzt kommt die Frage der Bewertung: Ist dies ein Argument gegen astrologische Beratungen und ihre Weissagungen oder nicht? Offenbar nicht, wenn man ihre Betreiber fragt; sie lassen sich aus vielen Gründen nicht durch die erkannte Präzision der fortwährenden Präzession irritieren. Einer der Gründe steckt in der Geschichte der Astrologie, die mit den Babyloniern beginnt. Ihre Sterndeuter oder Priester kannten das Konzept der Präzession noch nicht. Ihren scharfen Augen aber war nicht entgangen, daß die Sonne am Beginn des Sommers, der durch den längsten Tag (mit dem meisten Licht) definiert wurde, nie an der exakt gleichen Stelle im Sternbild Krebs erschienen ist, sondern von Jahr zu Jahr ein klein wenig verschoben auftrat. Der Unterschied war gering, aber sichtbar vorhanden, und so ließen sich die Babylonier als gute Wissenschaftler etwas einfallen. Sie entwickelten einen neuen Tierkreis, der auf Jahreszeiten bezogen wurde und heute tropischer Tierkreis heißt. Er enthält nicht mehr die bekannten Bilder (die offenbar nie leicht auszumachen waren und von vielen Menschen selbst beim besten Willen und mit größter Anstrengung nicht zu finden sind), dafür aber Zeichen. Nun hat man sich leider angewöhnt, die Tierkreiszeichen mit denselben Namen zu versehen wie die Bilder, und damit hat man bis in unsere Zeit hinein Verwirrung gestiftet. Der tropische Tierkreis mit seinen Zeichen beginnt da, wo die Sonne zu Frühlingsbeginn steht, und dieser Zeitpunkt - der Frühlingspunkt -ist durch die gleiche Länge von Tag und Nacht charakterisiert (Tagundnachtgleiche). Der Jahreslauf der Sonne wird in zwölf gleiche Abschnitte eingeteilt, und in fester Ordnung folgt ein Sternkreiszeichen dem anderen - ohne Probleme und ohne Verschiebung.
Die Ordnung ist damit hergestellt. Ob sie Bedeutung hat, muß jeder für sich spüren und festlegen. Vermutlich werden viele Physiker aus guten Gründen die Astrologie abwerten und verurteilen können, wenn sie die Gestirne erklären will. Doch wird dies die menschliche Neigung zu einer Sinnsuche nicht erschüttern. Den Grund dafür hat Goethe in einem Brief genannt, den er am 8. Dezember 1798 an Schiller geschrieben hat:
Der astrologische Aberglaube ruht auf dem dunkeln Gefühl eines ungeheuren Weltganzen.
Die Erfahrung spricht, daß die nächsten Gestirne einen entschiedenen Einfluß auf
Witterung, Vegetation u.s.w. haben; man darf nur stufenweise immer aufwärts steigen, und
es läßt sich nicht sagen, wo diese Wirkung aufhört. Findet doch der Astronom überall
Störungen eines Gestirns durch andere; ist doch der Philosoph geneigt, ja genöthigt eine
Wirkung auf das Entfernteste anzunehmen. So darf der Mensch im Vorgefühl seiner selbst
nur immer etwas weiter schreiten und diese Einwirkung aufs sittliche, auf Glück und
Unglück ausdehnen. Diesen und ähnlichen Wahn möchte ich nicht einmal Aberglauben
nennen, er liegt unserer Natur so nahe, ist so leidlich und läßlich als irgend ein Glaube.
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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