Die Stachelschweine

Der Kabarett-Klassiker aus Berlin

von Frank Becker

Die Stachelschweine
Der Kabarett-Klassiker aus Berlin

Fünf Programme 1959 - 1996
 
Vor 75 Jahren, am 3. Oktober 1949 eröffnete das West-Berliner politisch-literarische Kabarett „Die Stachelschweine“ gegründet von Rolf Ulrich (1921-2005), mit „Alles irrsinnig komisch“ in der Regie von Alexander Welbat im Jazzclub „Badewanne“. Die Texte waren damals wie viele Male später von Dieter Thierry und Rolf Ulrich. In der Startbesetzung spielten Horst Gabriel, Dorle Hintze, Ilse Markgraf, Günter Pfitzmann und Joachim Teege. Man nannte sich noch „Tribüne“, der Name „Die Stachelschweine“, der ab dem dritten Programm 1950 zum Markenzeichen der Truppe wurde, stammte vom Texter Dieter Thierry.  
Seither, vor allem mit dem Aufkommen des Fernsehens und ab 1960 durch seine regelmäßigen Fernsehübertragungen vom SFB (Sender Freies Berlin), ist das respektlose Berliner Kabarett zum Bestand der Republik geworden, nicht zuletzt durch seine Texte aus den spitzen Federn von Rolf Ulrich, Dieter Thierry, Ralf Wolter, Dieter Finnern, Eckhard Hachfeld und Wolfgang Gruner, der Ende 1950 zum Ensemble stieß und bis zu seinem Tod 2002 das Aushängeschild der Stachelschweine war.

Wolfgang Gruner (1926-2002), gerne als „Berliner Schnauze mit Herz“ bezeichnet, war jahrzehntelang das populärste Gesicht der Stachelschweine. Seine temporeichen und hinreißenden Solo-Auftritte, z.B. als Walter Ulbricht, in denen er plakativ die große Politik aufspießte, aber auch subtil mit dem DDR-Unrechtssystem ins moralische Gericht ging, waren fester Bestandteil jedes neuen Stachelschweine-Programms. „Kritisches Denken ist die erste Bürgerpflicht“, dieses Motto von Kabarett-Chef Rolf Ulrich zog sich durch alle Programme seit 1969, wobei die Nomenklatura der DDR, ebenso die Bonzen des Westens, vor allem die à la Globke wieder in staatliche Positionen gelangten Alt-Nazis angeprangert wurden. Zum allgemeinen Vergnügen wurde zum Halali gegen Bürokratie und Politik, gegen Militär und Ewiggestrige geblasen. Die Stachelschweine brachten  mit brillanten Texten, viel Humor und Satire und vor allem erstklassigem Personal bürgernahe und notwendige Kritik auf die Bühne. Prominenteste Ensemble-Mitglieder waren neben dem „Stamm“ um Wolfgang Gruner (s.o.) u.a. Edith Hancke, Christiane Maybach, Almut Eggert, Horst Niendorf, Wolfgang Völz, Walter Gross, Wolfgang Neuss, und Horst Keitel. 
Viele Fernsehzuschauer und Kabarett-Freunde werden sich noch an den Wechsel Achim Strietzels (1926-1989) 1969 zur Münchner Lach- und Schießgesellschaft erinnern – ein unerhörter Skandal, der in der Nähe des Vaterlandsverrats eingeordnet wurde, etwa in der gleichen „Güteklasse“ wie Wolfgang Neuss´ Verrat des Mörders 1962 im Durbridge-Straßenfeger „Das Halstuch“.  
 
Tacker Film legte in Zusammenarbeit mit dem SFB-Nachfolger RBB (Radio Berlin Brandenburg) zum 65. Jahrestages der Gründung der „Stachelschweine“ eine DVD-Box (2 DVD) mit fünf Fernsehaufzeichnungen des SFB (Sender Freies Berlin) aus der „Ära Gruner“ vor. Die ausgewählten Programme aus den Jahren 1959–1983 sind: „Denn Sie wissen, was sie tun“ (1959, 73 min), „Und vor 20 Jahren war alles vorbei“ (1965, 89 min), „Deutschland, Deutschland unter anderem“ (1967, 87 min), „Kein schöner Land als diese zwei“ (1983, 66 min), „Die abgeschriebene Republik“ (1996, 42 min). 
Für Kenner ein gelungenes Wiedersehen mit Rolf Ulrichs „Stachelschweinen“, das Appetit auf mehr dieser herrlichen Kabarett-Programme macht.

Die Stachelschweine
2 DVDs mit Booklet, Gesamtlänge: 357 Minuten

Mit: Wolfgang Gruner, Jo Herbst, Achim Strietzel, Joachim Röcker, Inge Wolffberg, Edith Elsholtz, Beate Hasenau, Rolf Ulrich, Eckhard Hachfeld, Wilfried Herbst, Günter Pfitzmann, Jochen Schröder, Uwe Paulsen, Axel Lutter u.a.m.
 
Regie: Horst Braun, Rudolf Schündler, Horst Köller, Norbert Schultz jr.
Texte: Rolf Ulrich, Wolfgang Gruner, Thierry, Ralf Wolter, Dieter Finnern, Eckhard Hachfeld, Dieter Thierry u.a.
 
Die Programme der beiden DVD:
Denn sie wissen was sie tun (1959)
Mit Edith Elsholtz, Inge Wolffberg, Wolfgang Gruner, Jo Herbst, Achim Strietzel, Joachim Röcker
1959 – der „kalte Krieg“ tobt, die Deutschen in Ost und West werden offiziell zu erbitterten Feinden. In dieser Atmosphäre entsteht auch das Programm zum 10-jährigen Jubiläum der „Stachelschweine“. Ob mangelnde Meinungsfreiheit in der DDR, Generationenkonflikte in der BRD, Beamten-Korruption – kaum zu glauben, dass dieses Programm schon 55 Jahre alt ist! Was die Kabarettisten damals auf´s Korn nahmen, ist heute aktueller denn je! 
Und vor 20 Jahren war alles vorbei (1965)
Mit Beate Hasenau, Inge Wolffberg, Wolfgang Gruner, Wilfried Herbst, Günter Pfitzmann, Joachim Röcker, Jochen Schröder, Achim Strietzel
Ostern 1965 ziehen die „Stachelschweine“ in ihr neues Theater im Untergeschoß des neu erbauten Europa-Centers ein. Die erste Premiere im neuen Haus soll ein großer Wurf werden – und so kommt es auch! Die „Stachelschweine“ erinnern an das Kriegsende vor 20 Jahren. Was wurde aus den ehemaligen Nazis? Die meisten haben in der BRD Karriere gemacht – nach dem Motto „Wir sind noch mal davon gekommen, uns hat man die Vergangenheit nicht krumm genommen“. Außerdem enthält dieses Programm zahlreiche komödiantische Glanznummern und Parodien auf damals populäre Fernsehsendungen. Walter Ulbricht (Wolfgang Gruner) als Gast bei Robert Lembkes „Was bin ich?“ – da bleibt kein Auge trocken!
Deutschland, Deutschland unter anderem (1967)
Mit Susanne Hsiao, Sonja Wilken, Inge Wolffberg, Gustav Adolph Artz, Reinhold Brandes, Wolfgang Gruner, Joachim Röcker, Jochen Schröder, Achim Strietzel
In diesem Programm dreht sich alles um Deutsche Sitten und Unsitten. Grundtenor ist auch hier wieder die Sorge um die gefährdete Freiheit, die Kritik an der Unfähigkeit der Deutschen, aus der eigenen Vergangenheit zu lernen. Die zunehmenden Studentenproteste irritieren die Wohlstandsbürger. Die „Stachelschweine“ kritisieren die Überreaktion der Springer-Presse, die alle kritischen Studenten als Gewalttäter abstempelt. Am Ende gibt es einen Ausblick auf eine mögliche Wiedervereinigung – da ist sie wieder, die Großmannssucht des deutschen Kleinbürgers.

Titelzeichnung: Hans Kossatz

Kein schöner Land als diese zwei (1983)
Mit Andrea Brix, Cornelia Meinhardt, Wolfgang Gruner, Axel Lutter, Uwe Paulsen, Joachim Röcker, Jochen Schröder, Rolf Ulrich, Silvester Berger
Die von der Nato beschlossene „Nachrüstung“ löst erhebliche Proteste in der BRD aus, diese bedrohliche Lage spiegelt sich auch im Programm der Stachelschweine wieder. Wie sehr sich die beiden Deutschen Staaten auseinandergelebt haben, wird in mehreren Nummer kabarettistisch auf die Spitze getrieben.
Die abgeschriebene Republik (1996)
Mit Angelika Wedekind, Wolfgang Gruner, Axel Lutter, Uwe Paulsen, Alexander Schäfer. 
Warum sollten Abschreibungen und Steuertricks nur großen Firmen vorbehalten bleiben? Wolfgang Gruner macht es mit seiner „Mayer Familiy AG“ vor, er hat seine Familie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Konstruktion ist so kompliziert, dass der Steuerbeamte verzweifelt: Für den Staat bleibt nichts übrig! Wer jetzt an Firmen wie Amazon, Starbucks oder Apple denkt ...
 
Begleitendes Literaturempfehlungen:
Rolf Ulrich – „Alles sollte ganz anders werden“ – 40 Jahre Kabarett „Die Stachelschweine“ (Ullstein TB 34688, 1990)
Ulrich/Herbst/Thierry – „Die Stachelschweine“ (Blanvalet-Verlag 1956)

Weitere Informationen:  www.tackerfilm.de