Die über übergroße Sorgenlast

von Erwin Grosche

Foto © Bernd Mueller
Die über übergroße Sorgenlast
 
Ich weiß wie mitfühlend ich bin. Ich bin so scheiße mitfühlend, daß ich allem Leid der Welt hilflos ausgeliefert bin. „Du mußt aufpassen“, sagt meine Frau immer, „daß du nicht ausgenützt wird.“ So stelle ich manchmal den Fernseher an und sauge die Schlagerrevue von Andy Borg auf. „Mitfühlend, mitfühlend Rumstibumsti schnäätter di Peng“. Andy mag ich auch nur, weil ich so mitfühlend bin. „Es ist nur gut“, denke ich manchmal, „daß wir nicht alle Andy Borg sein können.“ Wenn alle Menschen wie Andy Borg wären, das wäre zu viel des Guten, aber einen Andy Borg kann sich jede mitfühlende Gemeinschaft erlauben. Wenn man so scheiße mitfühlend ist wie ich, muß man schon aufpassen, was man sich im Fernsehen anschaut. Wenn ich in einem Film zwei Menschen sehe, die sich lieben, aber nicht zueinander finden, weil er Abitur hat und sie nicht, dann bin ich auch mitfühlend. „Sag es ihr“, schreie ich dann in den Lautsprecher des Fernsehapparates. „Der Bildungsgrad ist doch egal. Sie kann dafür Steuererklärungen ausfüllen und hat einen Kurs in der Altenbetreuung abgeschlossen.“ Was bin ich scheiße mitfühlend. Wie kann es sein, daß ich noch die Kraft habe, mich um Menschen, die mir in einem Film ihr Leid vorspielen, zu kümmern? Ich habe doch schon im wahren Leben so viel zu tun. Erst gestern habe ich meinen Briefträger umarmt, der darunter litt, daß er mir immer nur Rechnungen bringen muß und habe am Abend auf meinem Balkon gestanden und allen ein Lied vorgesungen, obwohl ich gar nicht singen kann. So wollte ich aller Toleranz einfordern und aller Güte trainieren. Überall warten Menschen darauf, daß ich ihnen helfe. An mir soll es nicht liegen. Ich kann fast so mitfühlend sein wie Andy Borg. Immerhin sind wir uns stimmlich ebenbürtig, aber wer ist das nicht?
 
Erwin Grosche
 
Erwin Grosches Web-Seite: www.erwingrosche.de