Der Bahnhof und der Flügel

von Elena Parfenova

Foto © Frank Becker

Seit mehreren Jahren schon erfreuen sich die Musikfreunde Wuppertals an dem Klavierspiel des russischen Pianisten Igor Parfenov. Seine Konzerte in der Stadthalle, der Musikhochschule oder in der Galerie Grölle sind gefragte Kunstereignisse geworden. 2010 kam Parfenov als Student aus Sankt Petersburg an die hiesige Musikhochschule zum Studium (bei Josef Anton Scherrer), das er vor kurzem in Düsseldorf mit dem Magister abgeschlossen hat. Neben seinen zahlreichen Konzerten komponiert Igor Parfenov auch selbst. Einen Zyklus für Gesang und Klavier zu den Gedichten von Georg Trakl hat er gerade abgeschlossen.
 
Auch wenn Igor Parfenov im Musikleben der Stadt Wuppertal längst eine feste Größe geworden ist, ist die Verbindung zu seiner Familie und den Eltern in Russland natürlich keineswegs abgerissen. Das Telefon hält die Beziehung lebendig. Und als er vor einiger Zeit seiner Mutter von dem Klavier erzählte, das in dem frisch renovierten Bahnhof Wuppertals aufgestellt worden sei, zur freien Benutzung für jedermann, hat seine Mutter, die Architektin ist, sich dazu die kleine Geschichte „Der Bahnhof und der Flügel“ ausgedacht und niedergeschrieben.
 
Hier findet sie, aus dem Russischen übersetzt von Vladimir Kornev, zum ersten Mal ihren Weg zu einer deutschen Leserschaft. Der weite Weg vom Wuppertaler Bahnhof nach Sankt Petersburg und zurück endet passenderweise wieder hier in Wuppertal, in dem Kulturmagazin MUSENBLÄTTER. 
 
In diesen Zeiten des Kriegs darf der kulturelle Austausch über die Grenze nicht abreißen.
Dann ist er dringender nötig denn je.                                                       
                                                                                                                       Michael Zeller 
                                                                                                            
 
 
Elena Parfenova
 
Der Bahnhof und der Flügel
 
Der alte Bahnhof verkam zusehends, und die Bewohner einer deutschen Stadt drückten sich mit beschämten Blicken durch zu den Zügen. Max konnte den Anblick der abgenutzten Wände nur schwer ertragen, und der muffige Geruch zwang ihn, noch schneller zum Bahnsteig zu eilen.
 
In der Unterführung hörte er die vertrauten Töne einer Geige. Er lauschte, ohne seine Schritte zu verlangsamen – was wurde da gespielt? Die Melodie führte ihn, riß ihn mit sich wie ein Wasserstrom. Er zögerte… und blieb beinahe stehen – etwas abseits, um diese Glückseligkeit, die von den Tönen geschaffene Aura nicht zu verletzen. Als würde die Musik die Wände öffnen und den Raum mit Licht füllen. Der hochgewachsene, silberhaarige Geiger spielte eine Vokalise von Schumann.
 
Immer, wenn Max an ihm vorbeiging, gab er ihm Geldscheine, keine Münzen. Die Scheine legte Max gezielt beiseite, sparte sie auf und gab sie den Straßenmusikern, wo auch immer er einem begegnete.
 
Als er fünf war, hatte ihn seine Oma einmal mit ins Theater genommen. Die Aufführung hatte schon begonnen, das Licht war erloschen – und er drückte sich wie festgeklebt an die Orchesterbrüstung, lehnte sich über den Rand und schaute kaum auf die Bühne. Er hörte sich hinein in die geheimnisvolle Sprache der Musikinstrumente, in die Vielfalt der Töne. Nur mit Mühe gelang es der Oma, ihn zu seinem Sitzplatz zurückzubringen.
 
Er hatte sich schon immer von Musik in ihren Zauber gezogen gefühlt. Vernahm er eine Melodie, so blieb er stehen wie gebannt.
 
Als Kind bekam Max Klavierunterricht. Im Unterschied zu anderen Kindern schwänzte er den Unterricht nie. Ehrfurchtsvoll schritt er dahin, sein Notenheft unterm Arm.
 
Einmal kam seine Mutter zu ihm, das Gesicht in den Händen verborgen und sagte, sie könne seinen Unterricht nicht mehr bezahlen. Max aber wollte weiter lernen… Doch als er seine Mutter noch einmal anschaute, wie im Nu gealtert, verstand er alles und bewarb sich am nächsten Tag als Lehrling in einer Bauschule. Er war schon sechzehn Jahre, es war an der Zeit, der Mutter und den Schwestern zu helfen. Er machte Ausbildung zum Ingenieu, suchte sich eine Arbeit und wurde schließlich zum Leiter der Konstruktionsabteilung einer namhaften Firma.
 
Doch die innige Liebe zur klassischen Musik blieb ihm.
 
Hörte er Berufsmusikern zu, erging es ihm, als spüre er mit seinen eigenen Fingerspitzen die Zärtlichkeit der beinernen Klaviertasten. Wieder erwacht, redete er sich selber ein, daß er sich damals – damals! – nicht anders hätte verhalten können, daß die Zeit vorbei war. Daß seine Zeit vorbei war…
Die Töne der Geige hatten sich in Luft aufgelöst und sind dort, in der alten Unterführung des Bahnhofs geblieben.
 
Max stieg in seinen Zug, setzte sich, döste weg. Und er träumte: Er war in einer großen, hellen Halle, die Wände mit gelbem Sandstein verkleidet, Kronleuchter hingen an der Decke. In der Entfernung teure, lederbezogene Sitze. Und er hörte eine Pfeife. Er war im Bahnhof! Er siah sich wie von der Seite, sah sich durch die Halle schreiten, rutschte beinahe auf dem Marmorboden aus, und durch den Lärm der Züge erklangen himmlische Klaviertöne. Noch zwei, drei Schritte – und da stand wirklich, mitten in der Bahnhofshalle, ein weißer Flügel - und ein Passant saß daran im Mantel und spielte Bach.  
 
Und Max wachte auf.  
 
Am nächsten Tag las er einen Zeitungsbericht über den Beginn der Bauarbeiten am neuen Bahnhof in der Stadt. Und er beschloß, da müsse künftig unbedingt Musik erklingen. Und ein Flügel stehen.
 
Er verschickte Briefe an den Stadtrat, an die Stadtverwaltung und an Wohltätigkeitsverbände mit dem Vorschlag, einen Flügel in der neuen Bahnhofshalle aufzustellen – selbstverständlich auf seine Kosten. Er hatte sich schließlich ein kleines Vermögen erarbeitet.
 
Die hohen Beamten ließen sich Zeit mit der Antwort.
 
In der Zwischenzeit kam es ihm vor, als erklänge überall Musik, an ganz und gar unpassenden Orten, aus unbekannten Quellen. Im Klang der Becher, im Gelispel der Bücherseiten. Noten statt Buchstaben. Notenzeilen statt Stromleitungen. Taktstriche statt Turmspitzen der Kathedralen.
 
Einmal im Monat stellte er sich in der Sprechstunde im Rathaus vor, das war für ihn schon Routine geworden. Die Beamten zuckten nur mit den Achseln: Wer braucht denn so was? Überhöflich erklärten sie ihm, es gäbe nicht genügend Platz in der Bahnhofshalle, es sei bereits alles verplant. Ein Flügel würde doch die Menschenströme behindern, letztlich könnten dadurch Notfallsituationen entstehen, teilten sie ihm mit. Die Menschen kämen schließlich nicht zum Bahnhof, weil sie in ein Konzert wollten. Die Musik könne man sich doch anderswo anhören – in der Stadt gäbe es schließlich genügend komfortable Konzerthallen.
 
Musik ist etwas Lebendiges, sie erklingt nur dann nach einem Zeitplan, wenn in einer Konzerthalle das Licht angeht oder nach dem Konzert erlischt. Natürlich gab es Konzerthallen in Max´ Stadt, doch irgendwas hatte immer gefehlt. Ein Bindeglied zum Leben oder ein Kontrapunkt.  Vielleicht die Umgebung, welche eben durch einen weißen Flügel in der Bahnhofshalle entstehen würde. Außerdem würde wohl die Unterführung, in der die Geige des silberhaarigen Musikers erklungen war verschwinden.
 
Verzweifelt stürzte sich Max kopfüber in seine Arbeit. Aber er stieß immer wieder auf Werbeblätter für Musikdarbietungen, Theaterzettel, Berichte über Musiker, Konzertplakate auf Schritt und Tritt. Für einen neuen „Steinway“ wurde Reklame gemacht. Überall waren diese Zeichen, verkündeten seine Mission. Er raffte sich auf und unternahm einen weiteren Bittgang.
 
Wieder und wieder träumte Max nun ein und denselben Traum von der Halle mit durch gelben Sandstein verzierten Wänden, dem weiße Marmorboden, glitzernden Kronleuchtern. Nur die Musik war jedes Mal anders: Sie wurde herzbeklemmender, als trauere sie über etwas. Er wachte dann auf, dachte an den Traum zurück, schüttelte den Kopf, stand schließlich entschlossen auf - und setzte seine Sache fort.
 
Im Laufe seiner Versuche, die Bürokraten zu überreden, bekam Max graue Haare. Er ähnelte nun dem bejahrten Geiger von früher. Nur das Spielen hatte er immer noch nicht gelernt. Doch eines Tages bekam ein neuer Beamter den alten Sessel im Rathaus, und plötzlich sagte dieser junge Mann: „Warum denn nicht? Eine tolle Idee!“. Und kaum ein Jahr später, an einem hellen Maitag, wurde in der Mitte der neuen, mit gelbem Sandstein und einer Kaskade von Kronleuchtern verzierten Bahnhofshalle ein strahlend weißer Flügel aufgestellt. Von früh bis spät spielt jemand dieses Klavier, immer umringt von einer Schar von Zuhörern.
 
Merkwürdigerweise wollte Max nun gar nicht mehr selber spielen, im Gegensatz zu seinen Kinder- und Jugendjahren. Er erinnerte sich an den silberhaarigen Geiger in der Unterführung, ihm war bewußt, daß auch sein Haar silbern geworden war. Und er verstand, daß er alles richtig gemacht hatte – was er für diejenigen tun konnte, die es mehr brauchten. Beinahe war er schon dankbar für seinen ganzen Werdegang, für die Karriere eines Ingenieurs.
 
Max kommt manchmal in die Bahnhofshalle, lehnt sich still an die Wand und schaut sich die Menschen am Klavier an, ihre Gesichter vom Spiel gerötet. Es gibt für ihn keine größere Freude, als der Harmonie der Klänge zu lauschen, und er weiß ganz genau, daß all die Menschen eine tiefe Dankbarkeit fühlen. Ganz egal, wem gegenüber – ob ihm oder der Fügung, die ihnen das Instrument geschenkt hat.
Was übrigens Träume angeht: Er träumt nicht mehr.
 
Denn: Warum sollte man sich Musik im Traum anhören, wenn man sie jeden Tag, jede Stunde auf dem Weg zur Arbeit zu sehen und zu hören bekommt?

© Elena Parfenova
Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2025

Redaktion: Frank Becker