Aus dem Leben der Menschen
Als ich einmal in einem Kindergarten den Versuch unternehmen durfte, den Kleinen etwas über die Naturwissenschaften zu erzählen, habe ich um Fragen gebeten, an denen ich mich orientieren konnte. Sie kamen sofort: Warum ist Zucker süß? Warum ist Wasser naß? Wie kühlt es einen oder eine ab? Warum wird es im Winter kalt? Wieso naschen Menschen gerne und fangen sich dann Bauchschmerzen ein? Wie kommen überhaupt Schmerzen zustande und wozu nützen sie? Was sorgt bei Menschen für unterschiedliche Hautfarben? Warum kann man seine Ohren nicht schließen? Und warum kann man seine Augen manchmal nicht mehr offen halten und sie fallen einfach zu?
Das kleine Völkchen wurde immer lebendiger, wobei die Jungen bald lauter wurden und sich vordrängten, was einen fragen läßt, warum sie sich so verhalten. Warum verhalten sich Männer überhaupt anders als Frauen? Frieren Mädchen tatsächlich schneller als Jungen? Warum gibt es überhaupt zwei Geschlechter - oder gibt es mehr? Wozu dient die Pubertät? Und was soll der Stimmbruch? Warum erröten Menschen? Und warum zeigen sie ihre Zähne, wenn sie lächeln? Dient das Gebiß nicht zum Fressen?
Im Alltag kann man vielfach Verhalten beobachten, das zu Fragen verleitet, etwa die, warum Menschen ihr Gesicht auch dann nicht vom Display ihres Handys abwenden, wenn sie mit jemandem persönlich sprechen. Warum halten sich Menschen überhaupt so entschlossen an ihren Handys fest und zücken sie bei jeder Gelegenheit? Spielen sie so gerne mit ihnen? Warum haben Menschen Freude am Spiel und lachen gerne in Gesellschaft? Warum vor allem über andere? Warum kullern einem Tränen aus den Augen, wenn man sich totlacht? Geht das überhaupt, sich totlachen? Und kann man die Luft so lange anhalten, bis man tot umfällt?
Und noch etwas: Warum antworten manche Menschen auf eine Frage stets mit einer Gegenfrage? Antwort: Warum nicht?
Das Süße des Zuckers Die Frage „Warum ist Zucker süß?“ liefert ein wunderbares Beispiel für die hier vertretene und praktizierte Ansicht, daß einige Fragen mehr als eine Antwort kennen, also mindestens eine zweite. Die erste Auskunft versucht zu erklären, warum die Moleküle, aus denen das meist kristallin verfügbare und häufig weiße Lebensmittel etwa in Form von Würfelzucker besteht, in Menschen die Empfindung „süß“ auslöst. Es gibt eine Vielzahl von Molekülen, die wissenschaftlich zum Zucker gezählt werden. Chemiker kennen sie als Glukose, Fruktose oder Saccharose und listen sie als Polysaccharide auf, weil sich in ihnen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff zu größeren Einheiten verbunden haben. Für all diese verschiedenen Zuckersorten gibt es eigene Empfangsstellen (Rezeptoren) im Körper, die in Zellen mit Namen Geschmacksknospen warten. Diese Rezeptoren sind ziemlich raffiniert aufgebaut. Für die Wahrnehmung des süßen Geschmacks ist ein Heterodimer aus zwei Makromolekülen zuständig, die über G-Proteine gekoppelt sind, wie Biochemiker genau zu sagen wissen. Für die hier erörterte Frage ist vor allem wichtig, daß die erwähnten Empfangsmoleküle die Information, daß Signale der Süße bei ihnen eingetroffen sind, in das Gehirn weiterzuleiten vermögen. Von hier gelangen sie auf raffiniert verschalteten Wegen in die Region, die Anatomen als gustatorischen Cortex kennen. Seine Zellen ermöglichen schließlich die Wahrnehmung der Süße, die Zuckermoleküle (nicht nur) bei Kindern so begehrt macht. Und jetzt kann man eine biochemisch-mechanische Antwort auf die Frage „Warum ist Zucker süß?“ geben: Der meist weiße Stoff schmeckt so gut, weil die Aufnahme (Rezeption) seiner Bestandteile in entsprechend ausgerüsteten Zellen eine gezielte Nachricht an das Gehirn zur Folge hat, das sich anschließend daranmacht, die erwünschte Empfindung auszulösen.
Diese Auskunft liefert die einfache Version der vielen biochemischen und physiologischen Schritte, die zu einer Antwort auf die Kinderfrage nach der Süße gehören. Wie immer stellen sich in der Wissenschaft nach ersten Antworten viele weitere Fragen ein, die hier der persönlichen Neugierde überlassen werden können, um der oben gegebenen kausalen Erklärung für die Wirkung des Zuckers eine ergänzende evolutionäre Betrachtung und sinnsuchende Überlegungen an die Seite zu stellen. Wenn es um Lebewesen und ihre Reaktionen geht, muß man sich in Erinnerung rufen, daß nichts vom Himmel gefallen ist und es stets gilt, das Verhalten im Rahmen der großen biologischen Geschichte namens Evolution zu verstehen - der Evolution des Menschen in diesem Fall. Die Frage „Warum ist Zucker süß?“ muß man dazu anders formulieren: „Warum hat die Evolution den eben geschilderten Mechanismus mit Rezeptoren und Signalumwandlung bis in den gustatorischen Cortex hinein mit all seiner Komplexität hervorgebracht und belohnt ihn mit der angenehmen Wahrnehmung, die süß heißt?“ Die Antwort lautet ganz einfach: Die Evolution hat Zucker süß gemacht, weil ein Mensch ohne“ diesen Stoff nicht leben kann und deshalb dazu gebracht werden muß, eifrig und unermüdlich nach ihm zu suchen. Homo sapiens braucht Zucker als tägliche Nahrung, und da es in den Anfängen der Menschheit keine Supermärkte gab, in denen die Wohlschmeckenden Kristalle erstens pfundweise und zweitens griffbereit angeboten Wurden, bereitete es den frühen Vertretern der Menschheit einige Mühe, die zuckerhaltigen Früchte des Waldes etwa in Beeren aufzuspüren. Die Evolution förderte die Suchbereitschaft durch den angenehmen Geschmack mit dem schönen Namen. Zucker ist also süß, um die Menschen zu ermutigen, diesem Stoff nachzujagen, da sie ihn zum Dasein brauchen. Fachleute unterscheiden bei der Erklärung seiner vitalen Rolle zwei Aspekte. Auf der einen Seite liefert Zucker den Zellen Energie, was man auch durch die Formulierung ausdrückt, Zucker ist der Treibstoff für den Körper. Das Gehirn allein benötigt mehr als 100 Gramm Traubenzucker (Glukose) am Tag für seine Arbeit, um Menschen atmen, lachen, denken und noch mehr tun zu lassen. Dabei ist anzumerken, daß die Zellen den Zucker nicht in Reinform geliefert zu bekommen brauchen, sondern in der Lage sind, ihn aus Brot, Nudeln, Kartoffeln und anderen Nahrungsmitteln selbst zu gewinnen. Die wichtigsten Lebensmoleküle, die Proteine, können ihren vitalen Dienst in den Zellen ohne Zuckeranteile nicht erfüllen. Beim Menschen müssen die meisten Proteine mit Zuckermolekülen versehen werden sie müssen glykosyliert werden, wie die Fachwelt sagt -, um überhaupt funktionieren zu können. Ohne diese klebrig-süßen Zusätze bräche das Immunsystem zusammen und würden Schleimhäute austrocknen, um zwei unmittelbar spürbare Folgen zu nennen. Insgesamt hat die Evolution ihren ausgewählten Geschöpfen die Fähigkeit verliehen, mit den Zuckermolekülen Stoffwechsel zu treiben, also ihre Verbindungen in den Zellen auf- und abzubauen, was nicht immer reibungslos funktioniert. Treten Störungen mit der Folge ein, daß sich im Blut zu viel Zucker findet, kommt es nach kurzer Zeit zu Schädigungen von Gefäßen und Organen - allzu viel ist eben ungesund. Die Medizin spricht dann von der Zuckerkrankheit oder Diabetes mellitus. Betroffenen kann zum Glück durch die Gabe des Hormons Insulin geholfen werden, das ihren Körper befähigt, Zucker aus der Nahrung abzuspalten und dorthin zu senden, wo seine Energie oder Anwesenheit gebraucht wird. In den kargen Nachkriegsjahren hat mich meine Mutter mit dem Satz „Zucker zaubert!“ ermuntert, den süßen Teilchen aus der Konditorei herzhaft zuzusprechen. Inzwischen hört man aber oftmals Warnungen vor der Schädlichkeit des Zuckers, etwa wenn sich nach allzu eifrigem Naschen Bauchschmerzen einstellen. Dieses unangenehme Gefühl entsteht, wenn der süße Stoff unverdaut bis in den Dickdarm gelangt, wo Bakterien darauf warten, ihn zu vergären. Dabei entstehen Säuren und Gase, und die Betroffenen reagieren mit Übelkeit, Blähungen und schließlich Bauchschmerzen. Auf diesem Wege macht man persönlich mit einer Einsicht Bekanntschaft, die der Arzt Paracelsus bereits im 16. Jahrhundert formuliert hat und die besagt, daß es die Dosis ist, die ein Gift macht. Solange Zucker rar war und seine Süße benötigt wurde, um Menschen in ihrer Frühgeschichte zu bewegen, sich auf die Suche nach Quellen für den lebenswichtigen Stoff zu machen, so lange kam niemand auf die Idee, vor den Süßigkeiten zu warnen. Doch in heutigen Tagen liegen die Zuckerangebote in Riesenmengen und attraktiv verpackt in Griffweite der Konsumenten - oftmals kurz vor der Kasse auf der Höhe der Kinderaugen -, und allzu viel wird jetzt wirklich ungesund. Die Zähne werden in Mitleidenschaft gezogen, man wird zu dick, bekommt Herz-Kreislauf-Probleme und kann doch von der süßen Verführung nicht lassen.
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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