Aus der Wahlkabine

von Wendelin Haverkamp

Wendelin Haverkamp - Foto Manfred Zehner
Aus der Wahlkabine
 
In Wahlkabinen ist es eng. Manchmal riecht es auch. Kein Wunder, wenn der Bürger sich zurückzieht. Er interessiert sich nicht mehr für die Welt, wenn sie nichts direkt mit ihm zu tun hat. Der Rückzug auf die eigenen Befindlichkeiten ist zwar nicht empirisch nachweisbar, aber „fühlbar“. Die gesellschaftliche Kommunikation hat sich auf Gefühle reduziert, denn Gefühle sind nicht widerlegbar und man hat immer recht.
     Die Diagnose lautet: Deutschland hat ADHS. In der Öffentlichkeit zeigt sich das in einer überbordenden, weder durch reale Daten noch durch logisches Denken überprüfbaren Sucht nach Aufmerksamkeit. Man setzt Zeichen, sendet Signale, es geht um Gefühle: Keiner kümmert sich um mich. Ich werde benachteiligt. Ich leide. Keiner nimmt mich ernst. (Der Nächste bitte). Und wenn man mich noch so zuvorkommend behandelt, ich bestehe auf dem Gefühl, daß ich schlecht behandelt werde. Denn ich möchte wahrgenommen werden. Außerdem bin ich unschuldig an allem Bösen, das geschieht. Ich sehe mich als Vorbild für die Welt, ich protestiere, zünde Kerzen an, tanze für den Frieden und gegen alles Unmoralische, ich bin Narziß, ich bin der Mensch, der sich in sein Spiegelbild verliebt hat.
     Fakten spielen keine Rolle. Wen interessieren Fakten? Seit Donald Trump hat das Wort ein „e“ mehr: „Faketen“. Steht im Lexikon kurz vor „Raketen“. Fake verschlammt das Internet, vernebelt den Horizont der Menschen, was meiner Meinung widerspricht, ist Fake. Und hör mir auf mit Arbeit. Arbeiten hält mich davon ab, mich mit mir selbst zu beschäftigen. „From nine to five“ malochen kann nicht der Sinn des Lebens sein. Das kann man mir nicht zumuten, ich will mehr Zeit für mich haben. Ich habe das Recht, täglich zu feiern. Da bin ich ganz bei mir. Jeden Tag zu arbeiten, womöglich auch noch um dieselbe Uhrzeit, das wird mir nicht gerecht. Halbtags vielleicht, wenn genug Zeit für die Nagelpflege bleibt. Zum Beispiel Mittwochnachmittags. Aber nicht jede Woche. Um später Rentenansprüche durchzusetzen, empfiehlt es sich, ein abgebrochenes Studium oder eine nicht angetretene Lehrstelle im Lebenslauf zu haben. Aber den sollte besser die KI aufsetzen. Schon wegen der Rechtschreibung. Ein Glück, daß man beim Wählen nur Kreuzchen machen muß. Sonst wäre die Demokratie längst am Ende.
 

Wendelin Haverkamp
 
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