Der Herzschlag der Kontrabässe

6. Sinfoniekonzert der 162. Saison: Dvořák – Tschaikowski

von Johannes Vesper

Foto: Johannes Vesper

6. Sinfoniekonzert der 162. Saison des Sinfonieorchesters Wuppertal

Dvořák – Tschaikowski 

Von Johannes Vesper
 
Bei diesem hochromantischen, ausverkauftem (jedenfalls am 09.02.25) Konzert sprach Patrick Hahn zu Recht von „Musik für die Seele“ und „musikalischem Herzblut“. Als Solist war Alban Gerhardt gewonnen worden, der noch kürzlich mit der hebräischen Rhapsodie von Ernest Bloch an gleicher Stelle das hiesige Publikum verzaubert und als Zugabe Dvořáks Lied « Waldesruh » gespielt hatte. Jetzt kam er mit dessen wunderbaren Cellokonzert in den Großen Saal der historischen Stadthalle, dessen elegante Fensterfront an diesem Morgen den Blick in den Park freigab. Von Hause aus Orchesterbratscher, hatte Antonín Dvořák (1843-1904) zum tieferen Violoncello ein gespaltenes Verhältnis, hielt es für ein „Stück Holz, das oben kreischt und unten brummt". Sein erstes, frühes Cellokonzert hatte er nie publiziert. Später aber war er vom Cellokonzert seines Komponistenkollegen Victor August Herbert (1859-1924) so begeistert, dass er es noch einmal wissen wollte. Als er 1894 nach New York kam, um als Ehrenmitglied in die dortige Philharmonische Gesellschaft aufgenommen zu werden, aktivierte er nach dem Besuch und Naturerlebnis der Niagarafälle alle seine böhmisch-deutsch-amerikanischen musikalischen Wurzeln und schrieb das wohl berühmteste Meisterwerk der Celloliteratur.

Nach langer Einleitung mit dem bestimmenden, vorschlagartigen Motiv des 1. Themas übernahm das klangreiche, große Violoncello von Matteo Gofriller (Corpuslänge 77,5 cm) aus dem Jahre 1710 die Führung und schlug mit edlem, kräftigem Ton das Publikum in Bann. Hier wurden diesmal anderthalb Orchesterproben genutzt, um Aufführungstraditionen und Hörgewohnheiten zu durchbrechen, wie der Solist im persönlichen Gespräch erzählte. Alban Gerhardt und Patrick Hahn konnten sich schnell über alles Wichtige der Interpretation einigen. Während Verve und Temperament des kraftvollen Vortrags überraschten, war dem Cellisten aber z. B. im 1. Satz das a tempo des 2. Themas und zwar im piano sehr wichtig. Seelenvoll und zart sang das Cello auch im späteren Zwiegespräch mit der silberhellen Flöte. Bei den virtuosen Arpeggien des Solocellos begleitete das gut aufgelegte Orchester aufmerksam jedoch nie zu leise. Im 2. langsamen Satz ging das Zusammenspiel in beglückendem Pianissimo zwischen delikaten Holzbläsern und dem Solocello zu Herzen. Hier hat der Komponist seiner unglücklichen Jugendliebe nachgespürt, ihrer gedacht mit dem Lied „Laßt mich allein“ und in den kleinen kadenzartigen Intermezzi spielte das Cello alle seine Klangqualitäten voll aus. Der letzte Satz forderte bezüglich Virtuosität (Läufe, Doppelgriffe) den Solisten heraus, der kraft- und temperamentvoll, musikantisch sensibel, souverän mit dem großen Orchester musizierte. Die neue Konzertmeisterin Jaha Lee machte in Solopassagen im Zusammenspiel mit Alban Gerhardt großen Eindruck. Da blieb auf Hörerseite kein Wunsch unerfüllt. Alban Gerhardt, dessen Vater in Ronsdorf seine Jugend verbracht hatte, spielt eines der großen Celli des venezianischen Cellobauers Gofriller, dessen Celli schon Pau Casals geschätzt hatte. Für den frenetischen Applaus bedankte sich der Solist bravourös mit dem sehr schnellen Präludium der 3. Solosuite für Cello von Johann Sebastian Bach. Nur zur Kenntnis: Nach dem Konzert hier wird er mit den Boston Symphony Orchestra in Boston die Rokokovariationen von Tschaikowski spielen und am 9.3.25 ein Lesekonzert im Robert-Schumann-Saal (Ehrenhof Düsseldorf) zusammen mit Christian Berkel geben.n

Nach der Pause gab es die Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 von Pjotr I. Tschaikowski (1840-1893), die einige Tage vor seinem Tod uraufgeführt wurde. Ob er mit der Sinfonie quasi ein Requiem für sich selbst geschrieben hatte, bleibt unklar. Immerhin hatte er von einem Programm (» durch und durch von meinem eigen Sein erfüllt ») gesprochen. Er starb wohl nach einem Glas choleraverseuchten Wasser, nach dem er selbst verlangt hatte. Seine Depressionen quälten ihn seit Jahrzehnten. Er betrieb Alkoholabusus, erlebte Nervenkrisen, wurde psychisch weder fertig mit seiner Homosexualität, noch damit, daß seine Mäzenin, seine Muse Nadeshda von Meck den Kontakt 1890 plötzlich und unerklärlich abgebrochen hatte. Er war ein „Greis von 50 Jahren“, als er mit seiner 6. Sinfonie begann.
Das leise aufsteigende Fagott-Motiv zusammen mit ruhigen, dunklen, tiefen  Streichern - das Eingangsmotiv entspricht dem der gleichnamigen Klaviersonate von Beethoven - wird bald vom Horn übernommen. Der scharfe Kontrast zwischen der sehr langsamen Einleitung und der sehr schnellen, forciert lauten, zerrissenen weiteren Entwicklung ließ einen runden Orchesterklang nicht eigentlich entstehen. Das gesangliche abfallende 2. Thema milderte die Konflikte bis zum sechsfachen Pianissimo bzw.  zur Generalpause, nach welcher ein gewaltiger Orchesterschlag eine neue Entwicklung anstößt. Ab- und aufsteigendes, gegenläufig synkopiertes Blech über Paukenorgelpunkt zu Streichertremolo steigerten die Dramatik des Satzes unter dem sicheren Dirigat Patrick Hahns. Im tänzerischen 2. Satz (Allegro con grazia) mit ihrer sonoren Cellokantilene zu Beginn nehmen Dramatik und Leidenschaft ab, aber der in der russischen Volksmusik damals nicht ungewöhnliche 5/4 Takt läßt durchaus auch elegische Stimmungsschwanken zu und ein Paukenostinato erinnert an den Ernst der Sinfonie. Das Allegro molto vivace des 3. Satzes flimmert und schwirrte in affenartigem Tempo los wie ein Sommernachtstraum, der bald durch das scharf punktierte Marschmotiv des Satzes (fallende und ansteigende Quart in allen Orchestergruppen) zunehmend strukturiert wird. Der Satz endet fast wie ein grandioser Schluss der Sinfonie, an den sich aber nahtlos das Adagio lamentoso des letzten Satzes direkt anschloß. Rezitativisch abgerissen, sich gelegentlich noch einmal aufraffend wird vom großen Orchester Abschied genommen. Schwermut und Aussichtslosigkeit machen sich breit über pochendem Kontrabasspuls, tiefe Streicher bleiben übrig. Der Herzschlag der Kontrabässe wird unregelmäßig und erstirbt. Die Sinfonie endet im Nichts, aus dem sie zu Beginn entstanden ist. Lange Stille bevor enthusiastisch das Publikum mit stehenden Ovationen Dirigent und Orchester feiert.
 
Sinfonieorchester Wuppertal
6. Sinfoniekonzert, Sonntag den 09. Februar 2025, 11:00 Uhr,  Montag den 10.02.2024 20:00 Uhr. Besetzung: Albert Gerhard, Violoncello, Sinfonieorchester Wuppertal, Patrick Hahn, Dirigent. Antonín Dvorak, Violoncellokonzert Nr. 1 h-Moll op. 104; Pjotr I. Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“