Blick in die Glaskugel

von Lothar Leuschen​

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Blick in die Glaskugel
 
Von Lothar Leuschen
 
Die Glaskugel kann im Schrank bleiben. Es braucht keine Magie, um vorauszusagen, daß die Beteiligung an der Bundestagswahl am Sonntag so hoch sein wird, wie vielleicht noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Und das liegt dann nicht in erster Linie an den mehr als zwei Millionen Erstwählern, von denen bestimmt sehr viele wissen wollen, wie es ist, zwei sehr wichtige Kreuzchen machen zu dürfen. Die Bevölkerung ist in den vergangenen Monaten angemessen politisiert worden. Der erbärmliche Niedergang der Zukunftskoalition namens Ampel, der Aufstieg einer nachweislich rechtsextremen Partei und die zunehmend fragile Weltlage dürften sehr, sehr vielen Menschen überall und auch in Wuppertal das Gefühl gegeben haben, sich besser aktiv für das Wohl und Werden der Gesellschaft zu interessieren. Deshalb ist an dieser Stelle ein Wahlaufruf völlig überflüssig.
 
Notwendig ist hingegen ein Weckruf. Zwar erleben viele Parteien seit dem vorzeitigen Ende der Bundesregierung einen Zulauf. Aber gemessen daran, was SPD, CDU, FDP und die anderen in den vergangenen Jahren verloren haben, ist das so gut wie gar nichts. Die meisten politischen Gruppierungen haben an Reiz verloren. Und die, die seit 2015 deutlich gewonnen haben, sind jene, die eine offene demokratische Gesellschaft so nötig hat wie der Wanderer die Blase am Fuß. Das hat Gründe. Und die sind seit Jahr und Tag auch in Wuppertal zu beobachten. Zuletzt wieder im Stadtrat. Auf der Zielgeraden zum Urnengang am Sonntag ist dort noch einmal so richtig Bundestag gespielt worden. Die jeweiligen Mandatsträgerinnen und Mandatsträger versammelten sich in ihren jeweiligen Parteiblasen und taten alles, um die lästige Konkurrenz schlecht aussehen zu lassen. Hauptleidtragend waren diesmal die Freien Demokraten, deren neuerlicher Vorstoß gegen eine große Ditib-Moschee es nicht geschafft hat, das Interesse der anderen Parteien zu wecken. Kein Diskussionsbedarf, jetzt nicht, vielleicht später. Meistens ist es dann allerdings zu spät.
 
Dabei ist heute bekannt, daß sich viele Menschen vor allem, aber nicht nur an der Gathe mit dem Bauwerk schwertun. Vermutlich geht es bei vielen Kritikern nicht um die Moschee als solche. Die hat ersten Plänen zufolge durchaus die Kapazität, die Gathe optisch aufzuwerten. Es geht sozusagen um den Betreiber. Der ist in jüngerer Vergangenheit zunehmend erheblich diskussionswürdig geworden. Es ist kein Geheimnis, daß die Ditib sehr staatsnah war und ist. Früher war das weniger problematisch. Aber seit der türkische Staatspräsident Allmachtsphantasien entwickelt und den Export des Islam für sich entdeckt hat, ist die Ditib nicht mehr, was sie einst war. Das weiß jeder. Das wissen auch die Damen und Herren im Wuppertaler Stadtrat. Warum dann aber lediglich die FDP ein Störgefühl entwickelt, ist rätselhaft. Es kann damit zu tun haben, daß auch in Wuppertal viele Mandatsträger über die Jahre das Gespür dafür verloren haben, was die Bürgerinnen und Bürger ihrer Stadt umtreibt.
 
 
Der Kommentar erschien am 22. Februar in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.