Die Zeitung des Gerüchtes

von Anton Kuh

Anton Kuh - Emil Orlik pinx.
Die Zeitung des Gerüchtes
 
Sie wird seit Kriegsbeginn in aller Herren Ländern, die am Krieg beteiligt sind, herausgegeben, hat eine enorme Auflagezahl und einen unbeschadet um jede Partei- und Gesinnungsschattierung treu zusammenstehenden Abonnentenstock, verfügt über Artikel von rnaßgebender und gut informierter Seite, einen glänzend bedienten Nachrichtenapparat und ein sehr pikantes und abwechslungsreiches Unterhaltungsfeuilleton, eine klare und ausgesprochene Meinung und überraschende Dementis und kostet nicht einen Heller. Vielmehr aber: den Verstand.
     Das Gerücht hat bekanntlich viele Stufengrade: es gibt in aufsteigender Folge ein unbestimmtes, bestimmtes, hartnäckiges, allgemeines, öffentliches, zuverlässiges und sicheres Gerücht, von denen das erstere sich so ziemlich mit einer Erfindung und das letzte mit einer Tatsache deckt. Der Frieden hatte im großen und ganzen nur mit den unbestimmten zu tun; darum schienen Zeitung und Gerücht einander gerade gegenüber zu stehen. Der Krieg bevorzugt die andere Gattung. Sie ist derart verdichtet, exakt und sozial ausgebreitet, daß sie selbst schon wieder eine Zeitung darstellt. Die »mündliche Tradition« arbeitet genau wie eine Setzmaschine: Satz- und Wortfolge ist unvermischt beibehalten; Frage- und Ausrufungszeichen, Gänsefüßchen und Bindestriche stehen am selben Platz; auch Einleitungsklischees und Überschriften sind einheitlich, statt: »Wie verlautet ...« einfach: »Sie wissen doch schon …«, statt: »Eine sensationelle Nachricht kommt uns …« »Was sagen Sie zu …« und dann: »Eine interessante Neuigkeit«, »Die Absichten der Heeresleitung« usw. Das Gerücht spekuliert neuerdings nicht mehr auf Treu und Glauben, es sucht zu beweisen und enthüllt seine Herkunft. Es beschönigt nicht, bereitet nicht vor, stilisiert und affektiert nicht, kommt nicht im großen Bogen und mit zahmer Sachlichkeit, unterliegt keiner Zensur und hat keine weißen Flecke; ist es doch der weiße Fleck selber, sein mutwillig wieder auflebender Inhalt und protzt mit seiner restlosen, tiefschwarzen und auffälligen Vollgedrucktheit. Die Zeitung des Gerüchtes heißt »Der schwarze Dr …«.
     Sie ist ohne Zweifel äußerst interessant und macht sich in ihrer unbeschränkten Fülle über alle Papiernot lustig. Aber sie hat auch ihre Fehler. Vor allem: ihre offizielle Richtigkeit nimmt erst allmählich zu und steigert sich mit der Entfernung vom Abonnenten; je schneller sie ihm zugestellt wird, desto schlechter ist er unterrichtet, desto zahlreicher sind Druckfehler und Irrtümer vorhanden. Wenn er sie aber verspätet oder im zwanzigtausendsten Abdruck zugeschickt erhält, hat sie sich schon in ein peinliches Amtsblatt verwandelt. Dann: man kann sie zwar mit einem Blick auf die Titel rasch überfliegen, ohne sich um Geplaudertes und Kleingedrucktes zu kümmern - aber nicht zerknüllen und in die Ecke werfen; man muß sie hundert- und tausendmal sehen und ein und dieselbe Textstelle so oft vor Augen haben, daß man unbewußt und ohne Absicht, die Worte mechanisch herunterleiernd, einem Dritten gegenüber selbst wieder zu einem ihrer Exemplare wird. Die Verbreitung erfolgt heute übrigens weniger aus der Hoffnung, eine Neuigkeit zu melden, sondern im Gegenteil, mit ihr zu spät zu kommen, und in der Informiertheit des andern eine Stichprobe auf ihre Wahrheit zu haben. Endlich: sie lügt wie gedruckt. Zwei Drittel jeder Ausgabe sind eine Korrektur der vorigen Nummer. Aus ihrer bestechenden Reichlichkeit bleibt also nicht viel übrig.
     Anfangsmängel hat ein neues Unternehmen immer. Die Zeitung des Gerüchtes tritt ja erst in ihren dritten Jahrgang - was kann man da viel von ihrer Ausgestaltung verlangen? jedenfalls hat sie von der Materialsichtung und Quellenerfragung des Journalismus genug gelernt, um alle Legendenbildungen und Massentäuschungen des Altertums zu beschämen ... Die Urform der Zeitung war das Gerücht. Es ist nur entwicklungslogisch, daß es heute gleichsam als ihre technische Verbesserung wieder auftritt.
 
 
Anton Kuh