Kalenderblatt für Taras Schewtschenko
Zum heutigen Geburtstag des ukrainischen Nationaldichters
Und so blutet die Ukraine
jetzt aus tausend Wunden ….
T.S.
Es gibt wohl keine größere Stadt in der Ukraine, die den konkurrenzlos bedeutendsten Dichter ihrer Sprache nicht mit einem Denkmal ehrt. Da steht er dann, an sichtbarster Stelle für alle, grüblerisch gesenkten oder stolz erhobenen Haupts, ein Buch oder eine Schriftrolle unterm Arm, und schaut über seine nachgeborenen Landesleute hinweg, wie er das wohl zu Lebzeiten kaum getan hätte: Taras Schewtschenko.
Und heute, am 9. März, wird es keines dieser Denkmäler geben, an dessen Fuß sich nicht die Blumen stauen, zu Ehren seines Geburtstags. Der Dichter Taras Schewtschenko genießt in seinem Land eine Verehrung – nein, eine Liebe, wie man sie sich weiter westwärts auf dem Kontinent nur schwer vorstellen kann. Gerade jetzt, da der menschenverschlingende Krieg gerade in sein viertes Jahr geht, wird die Huldigung mit Blumen noch üppigere Formen annehmen. Der Liebe der Ukrainer zu ihrem Taras, quer durch alle Gesellschaftsschichten, ist kein Opfer zu groß.
Es sind natürlich vor allem die wunderbaren Lieder und Gesänge, die er seinen Landsleuten geschenkt hat und die bis heute noch gesungen und gesprochen werden. Es ist aber nicht zuletzt auch das harte Leben, dem er sie abringen mußte.
1814 in eine Bauernfamilie von Leibeigenen hineingeboren, in der Nähe von Kijiw, kann er erst 1838, mit 24 Jahren also, sich freikaufen von der bäuerlichen Fronarbeit. Freunde haben ihm dafür das Geld verschafft. Kaum in Freiheit, schreibt sich der junge Mann, der auch als Hütejunge und Knecht schon gern gezeichnet und gemalt hatte, auf der Kunstakademie von Petersburg ein. Doch während des Studiums wird ihm das literarische Schreiben immer wichtiger, zumal als er mit seiner ersten Buchveröffentlichung, dem Gedichtband KOBSAR, Aufsehen erregt hatte. Seine Petersburger Freunde aus der russischen Intelligenz lobten die lebendige Darstellung des dörflichen Lebens in seiner ganzen Erbärmlichkeit. Doch sie bemängelten, daß er dies – o Graus! - in der ukrainischen Sprache tat. Die Russen hielten das für einen bäuerlichen Dialekt der eigenen Sprache. In der Ukraine dagegen wurde Schewtschenko gerade deswegen mit diesen Gedichten schlagartig landesweit bekannt.
Wegen der Verwendung seiner eigenen Sprache und des unbotmäßigen Inhalts seiner Gedichte wurde der bekennnende Ukrainer 1847 verhaftet und kam ins Gefängnis. Der Chef der Geheimpolizei dort formulierte sein Verbrechen: “Mit der Verbreitung seiner Gedichte in der Ukraine könnten Ideen über die Möglichkeit des Bestehens der Ukraine als eines selbstständigen Staates Wurzeln schlagen”. Schlüssiger könnten das selbst die Juristen-Schergen des Genossen Putin heutzutage nicht formulieren. Und in der Tat: Diese Gefahr bestand ausdrücklich, und sie besteht weiter. Denn Schewtschenkos Gedichte haben ihn in seinem Land weit überlebt. Bis heute.
Das Gerichtsurteil für seine Vergehen war hart: lebenslanger Dienst als einfacher Soldat - Verbot, die Ukraine jemals wieder zu betreten - und natürlich lebenslanges Schreibverbot. Zehn Jahre lang wurde er in die Steppen im Süden des Urals verbannt. Trotzdem gelang es Schewtschenko, in dieser Zeit weiterhin zu dichten und zu malen.
Schon das vierte Jahr ist leise,
wie es kam, verronnen,
und mein viertes Büchlein hab ich
in der Haft begonnen,
und mit Blut und Tränen kritzel ich
wie gestickte Zeilen,
von dem Kummer in der Fremde;
niemand kann ihn heilen,
keinem kann ich ihn in Worten,
keinem je erzählen!
Nirgendwo hört meine Stimme
irgendeine Seele.
(Eine Auffrischung der Übersetzung ins Deutsche von 1939/40 würde diesen Versen hierzulande ausgesprochen gut tun.) Zehn lange Jahre mußte Schewtschenko dieses Sklavenleben führen, dann starb 1857 irgendeiner dieser Zaren. Freunde verwendeten sich für den ukrainischen Künstler, damit er amnestiert werden konnte und zurück nach Petersburg durfte. Aber er blieb weiterhin unter strengster Zensur. Sein Versuch, sich in der Ukraine niederzulassen, wurde verraten. Erneut wurde er verhaftet.
1861 starb er, am 10.März, einen Tag nach seinem 47.Geburtstag. Siebenundvierzig Jahre Leben – davon 24 als russischer Leibeigener und zehn Jahre in russischer Verbannung. (Unter den Kommunisten haben zahlreiche ukrainische Schriftsteller ein ähnliches Schicksal erlitten, zuletzt noch unter Gorbatschow.)
So also sah, auf das Kürzeste gedrängt, im 19.Jahrhundert im russischen Zarenreich das Leben eines ukrainischen Dichters aus, und dennoch ist Taras Schewtschenko dabei der bedeutendste geworden, den dieses Land bis heute hervorgebracht hat.
Was ihm wohl die größte Verehrung seiner Landleute sichert, ist sein Festhalten an der ukrainischen Sprache gegen alle massiven Verbote und Zensurmaßnahmen der russischen Zaren. Das hat ihm tief ins Leben greifende Opfer abgefordert. “Lieder, meine lieben Lieder, / ihr bringt vieles Leid mir!”
Gerade deshalb genießen seine künstlerischen Werke, in Wort und Bild, in seiner Heimat bis heute eine nahezu kultische Verehrung, gerade auch heute wieder in der aktuellen Phase der russischen Politik.
Eines der schönsten und beliebtesten Gedichte der ukrainischen Literatur ist Schewtschenkos Ballade DIE BEHEXTE. Sie erzählt eine packende Liebesgeschichte. Hier sei nur der Natureingang zitiert, der in die hochdramatische, tragisch endende Handlung einführt:
Der Dnipro stöhnt und brüllt, der breite,
zornbebend heult der wilde Wind,
beugt tief hinab die hohe Weide,
wirft Wellen, die wie Berge sind.
Still kommt der bleiche Mond gezogen,
lugt zaghaft hinter Wolken vor –
gleich einem Kahn auf blauen Wogen,
versinkt er bald, taucht bald empor.
Noch krähte nicht der Hahn. Noch schweigen
die Dörfer rings, du hörst kein Wort,
nur Eulen rufen in den Zweigen,
ein Eschenast knarrt hier und dort.
Damit beginnt die Handlung der Ballade: In dieser aufgewühlten Luft können jetzt der Kosak und seine Liebste auftreten.
*
Bei seiner ersten Verhaftung in Petersburg 1847 schrieb Schewtschenko den Gedichtzyklus IN DER KASEMATTE. Hier das dritte Gedicht daraus.
Mir gleich, ob in der Ukraine
ich leben werde oder nicht,
ob ich Erinnerung dort verdiene,
ob man dort nicht mehr von mir spricht,
das ist gewiß nicht von Gewicht.
Ich haust in fremdem Land alleine,
und unbeweint von all den Meinen
sterb ich, verlassen, ohne Glück,
und nichts mehr laß ich hier zurück –
Verweht sind meines Daseins Spuren
auch in der Ukraine Fluren,
in unserm – nicht mehr unserm Land.
Wenn Schurkenvolk mein Land beschwätzte
und nach gelungenem Räuberstreich
das leere Haus in Flammen setzte …
Nein, nein, das wär mir gar nicht gleich.
Wegen dieser brandaktuellen Gedichte wird Tara Schewtschenko in der Ukraine von wirklich allen Menschen verehrt und geliebt, und deshalb werden heute, am 9. März, seinem Geburtstag, in den Städten dieses schwer zerstörten Landes in großen Mengen die Blumen sich häufen zu seinen Füßen. Denn seine Verse haben nichts von ihrer Kraft verloren, von ihrer Dringlichkeit – und von ihrer tiefen Traurigkeit.
© Michael Zeller
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