Innere Unendlichkeiten
Bevor nun weiter über das Erröten von Menschen und andere Färbungen ihrer Haut berichtet wird, soll noch einmal der zentrale Gedanke dieses Buches in Erinnerung gebracht werden: Eine Antwort ist nicht das Ende des bis zu diesem Punkt gekommenen Fragens, sondern - im Gegenteil! - nur der Anfang des weitergehenden Erkundigens. Hierin steckt ein Grundprinzip des Wissenschaftlichen, dem der große Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt schon im 19. Jahrhundert attestierte, ein stets offenes und niemals abgeschlossenes Suchen nach Antworten zu sein, wie es die besondere Bedeutung des Begriffs „Bildung“ anzeigt. „Bildung“ erfaßt sowohl den Prozeß - das Bilden - als auch das Ergebnis - das Gebildete selbst. Wenn sich nach allen Fragen immer wieder neue stellen - und immer mehr von ihnen -, wenn sich das Geheimnisvolle der Natur also beim Näherkommen weiter öffnet und nach jeder Windung tiefere Dimensionen zu erkennen gibt, dann kann man von einem endlosen Prozess des Eindringens in das Innerste der Welt sprechen und den Fragestellungen eine innere Unendlichkeit attestieren. Sie scheint unerschöpflich zu sein und soll hier noch einmal in aller Kürze vorgeführt werden, und zwar an dem Fall, daß Neugierige sich erkundigen und wissen wollen, wie man das Erröten eines Menschen sieht und erkennt, wenn er sich schämt oder sich verliebt hat.
Also: Bäckchen werden gut durchblutet und röten sich. In einem naturwissenschaftlichen Kontext meint dies, daß Licht von bestimmter Wellenlänge von den erwärmten Hautpartien ausgeht und den Weg durch den Raum in ein Auge findet. Natürlich müßte man erst einmal erklären, wie das Blut an die richtigen Stellen kommt, wie den entsprechenden Hautstellen das rötliche Licht entspringt, wie es sich ausbreitet und so weiter, aber jetzt soll das Rot schon da sein und sein Licht auf dem Weg von dem Gesicht in die Welt unterwegs sein. Irgendwann erreicht es ein Auge, und hier durchquert das physikalische Signal einen als Glaskörper bezeichneten Zellhaufen. Aufgefangen wird das Licht erst auf der Hinterwand des Sehorgans, die als Netzhaut (Retina) bekannt ist. Kurioserweise wird das Licht auf der Retina hinten im Auge erst aufgenommen (absorbiert), nachdem es eine Schicht aus Nervenzellen durchquert hat, die vor (!) der Retina liegen und eine Art Gestrüpp bilden. Niemand kann diese umständlich wirkende Anordnung der Natur kurz und knapp plausibel machen, aber was man lernen kann, läßt sich so ausdrücken: Das Auge macht keine Fotografie der betrachteten Szene in der Außenwelt, es zerlegt die eingehenden Informationen in einzelne Bereiche, die als rezeptive Felder bekannt sind und dem Gehirn im weiteren Verlauf der Verarbeitung - einfach gesagt - geometrische Muster liefern, wie sie auch Maler nutzen, wenn sie an ihrer Staffelei arbeiten Punkte, Kreise, Ringe und Linien zum Beispiel, wobei die Farben hier übergangen werden. Mit dieser Anordnung läßt sich sagen: Das Gehirn malt die erhitzten Wangen eines errötenden Menschen. Es bietet ihm keine Fotografie an, und so kann das Licht erst einmal ein Gestrüpp durchlaufen, bevor das Auge sein Eintreffen registriert.
Das Auge muß sich erst durch den erwähnten Zellteppich aus Nervenzellen kämpfen, bevor es seine Energie abgeben kann, und zwar an Zellen, die in der Netzhaut auf sein Eintreffen warten. Die Experten unterscheiden zwei Zelltypen, die hier mit dem Licht wechselwirken - sie heißen nach ihrem Aussehen Zapfen und Stäbchen. Aber für unsere Zwecke ist nur wichtig, daß das physikalische Signal „Lichteinfall“ in beiden Fällen eine biochemische Reaktion auslöst, die es allerdings in sich hat und Folgen zeigt. In den lichtempfindlichen Zellen befinden sich Fotorezeptoren, wie die entscheidenden Moleküle heißen, die aus einem großen und einem kleinen Anteil bestehen. Dabei ist das kleine Stück dem Vitamin A sehr eng verwandt, was erklärt, warum dieses Molekül wichtig für die Ernährung ist (und sein Mangel Blindheit zur Folge haben kann). Wenn das Licht seine Energie abgibt, löst sich das Vitamin aus seinem Verbund, es kommt frei. Damit ist aus dem physikalischen ein biochemisches Signal geworden, das andere Zellen aufgreifen. Um zu verstehen, was nun passiert, muß man - hoffentlich staunend zur Kenntnis nehmen, daß in den lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut ein winziger Strom fließt, solange es im Auge dunkel ist. Man spricht vom Dunkelstrom, und vermutlich kommen einem jetzt beliebig viele Fragen dazu in den Sinn: Wer treibt den Strom an? Woraus bestehen seine Ladungen? Wo fließt er genau entlang? Was ist der Vorteil solch einer Einrichtung? Und immer so weiter in einer zunehmenden Unendlichkeit, in der man sich mehr und mehr zu verlieren fürchtet, bis plötzlich ein einfacher Punkt gemacht werden kann. Das freigesetzte Vitamin sorgt nämlich dafür, daß der Dunkelstrom unterbrochen wird. Und wenn damit auch noch niemandem klar sein wird, was dazu im Detail ablaufen muß, so kann doch eines konstatiert werden, daß nämlich das ursprünglich physikalische Lichtsignal jetzt in eine elektronische Information umgewandelt worden ist, mit der man endlich versteht, wie sie den Weg ins Gehirn findet und das Sehen ermöglicht, um das es von Anfang an gehen sollte. Allerdings, wenn jetzt jemand wissen will, wie das Gesehene in Worte gefasst - „Erröten“ zum Beispiel - und in seiner Bedeutung verstanden wird - „Schämen“ Vielleicht -, dem wird beim Stellen dieser Frage rasch klar werden, daß zu ihrer Beantwortung eine ganze Bibliothek voller Bücher benötigt wird, falls das überhaupt reicht. Auf jeden Fall zeigt sich, wie sich hinter jeder einzelnen Fähigkeit des Lebens eine unendliche Geschichte versteckt, die zu erzählen sich lohnt und Freude macht. Dabei kann man selbst voller Eifer die roten Bäckchen bekommen, die man die ganze Zeit erklären wollte.
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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