Gegen den Verlust der Erinnerung

Barry Falk – „In Search of Amnesia – jewish Narrative in Poland and Ukraine“

von Johannes Vesper



Gegen den Verlust der Erinnerung
 
Jüdische Vergangenheit in den Bloodlands Polens und der Ukraine
 
2017 flog Barry Falk auf der Suche nach seiner eigenen Familie nach Krakau. Bald ging es ihm nicht mehr um die eigene Familie und deren Geschichte. Für Jahre ist er in Osteuropa geblieben, wollte jüdischer Geschichte dort nachspüren, suchte Orte auf, an denen Juden und Jüdinnen umgebracht wurden, sprach mit Menschen, die ihm dazu etwas sagen konnten.
In Auschwitz begann er seine Reise und besuchte dann aber rund 50 Orte, davon 35 in Südost-Polen und 15 im Nordwesten der Ukraine. Dabei interessiert ihn nicht nur der Schatten der Shoa, sondern die ganze jüdische Kultur, an der diese Regionen ehemals so reich war. Fasziniert von der traditionsreichen Religiosität der orthodoxen Juden, dem Chassidismus in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie von der aufklärerischen Haskala am Ende des 18. Jahrhunderts, suchte er Überbleibsel und Relikte jüdischer Kultur, schrieb während seiner Reisen ein Tagebuch, welches die Grundlage für die Texte in dem Fotobuch war.
 
Es war nicht einfach, Spuren der ursprünglichen jüdischen Orte, Städte und Dörfer, der Shtetls zu finden und zu bereisen. Jüdische Friedhöfe, ehemalige und noch existierende Synagogen, Ausstellungsstücke in Museen, touristische Schmuckstücke bildeten seine Quellen. Er sprach mit Juden, mit örtlichen Fremdenführern, Historikern, Künstler, mit vielen Menschen, die Auskunft geben konnten. In den Texten (auf Englisch) berichtet der Fotograf über seine Reisen, seine Besuche des Lagers Auschwitz und Birkenau. So stellte er Fotos eines Grabens im Lager Auschwitz, wie er heute aussieht, einem historischen Foto gegenüber, auf welchem Sträflinge des Lagers 1942/43 diesen Graben oder einen ähnlichen Graben ausheben.
 
Landschaften bei Treblinka und anderswo werden präsentiert, weil durch sie Fluchtwege aus Todeslagern geführt haben mögen, während heute heruntergekommene Wohnwagen im Schnee ein tristes Dasein führen.
Vom alten jüdischen Friedhof in Przemyśl steht nur noch das ruinöse Eingangstor, der Friedhof in Lviv ist von einem Markt überbaut. Vor dem jüdischen Friedhof von Zveyhorodka(Ukraine) schaut eine kleine Herde schwarzer und weißer Ziegen in die Kamera.
Der Autor besuchte das Fest zur 700-Jahrfeier Lubins und im Gedenken an die Auslöschung der jüdischen Bevölkerung der Stadt, die als „Operation Reinhardt“ dort begann. Er ging mit den Lubinern den Weg vom jüdischen Ghetto zum „Umschlagplatz“, auf dem in kurzen Pausen von deutschen Gräueltaten erzählt wurde. Vom Umschlagplatz ging es für die Juden damals zu den Vernichtungslagern.Ein Foto vom Marsch zeigt heutige Teilnehmer dieser „Prozession“.
 

Diseinfectiom unit Ausschwitz Birkenau State Museum

Oksana Dovgopolova (Prof. Of Public History in KyivSchool of Economics) erinnert am Ende in ihrem Essay „Tornado Tapestries“ (zerrissene Teppiche) an T. Snyders „Bloodlands“, spielten sich doch in den beschriebenen Regionen die furchtbarsten Tragödien des 20. Jahrhunderts ab: Shoa, Holodomor, die beiden Weltkriege, die Untaten der Deutschen Wehrmacht, sowjetische Unterdrückung. Viel vom ehemaligen jüdischen Leben ging hier verloren und droht der Amnesie, dem Vergessen anheim zu fallen. Noch in der Gegenwart werden Synagogen zu Fitnessstudios umgebaut und Kirchen zu Warenhäusern. Idyllische Landschaften zeigen bei genauer Betrachtung die Residuen der Geschichte, auch wenn nicht mehr überall Reste von Konzentrationslagern sichtbar sind. Die Autorin zitiert Martin Pollock, der von „kontaminierten Landschaften“ sprach, denen man die Morde und Grausamkeiten in der Vorgeschichte nicht mehr ansieht aber diese doch fühlt. Roger Loewig (1930-1997) hatte bereits mit seinen in Erdfurchen geworfenen Leibern die Idylle der Landschaft zerstört. Seine Epitaphe, Zeichnungen und Drucke waren 1992 im Lagermuseum Auschwitz zu sehen. Seit dem russischen Überfall 2022 droht aktuell weitere Auslöschung, diesmal ukrainischen Lebens, ukrainischer Kultur in ukrainischen Landschaften: Hunderttausende starben in dem aktuellen Krieg, mehr als 10 Millionen flüchteten aus dem Land. Theater, Kirchen, Bibliotheken und Museen wurden und werden zerstört, um die ukrainische Identität zu vernichten. Das Bewahren der Erinnerung versteht die Autorin als eine Art symbolischen Widerstands. Und das stille Buch mit seinen mahnenden Texten und unspektakulären wie mahnenden Fotos erinnert an die jüdische Vergangenheit, verweist auf die katastrophale ukrainische Gegenwart und will diese geschundenen Landschaften dem Vergessen entreißen.
 
Barry Falk – „In Search of Amnesia – jewish Narrative in Poland and Ukraine“
© 2025 Kehrer Verlag, Barry Falk and Oksana Dovgopolova. Texte Oksana Dovgopolova, Barry Falk, Sprache: Englisch, Fest-Einband 24x19,6 cm, 134 Farbabbildungen, 216 Seiten – ISBN: 978-3-96900-184-4
48,- €
 
Weitere Informationen: https://www.kehrerverlag.com