Anmerkungen zum Krebs und zum Tod
Wer dies liest, wird sich vielleicht jetzt fragen, wie denn nun der Krebs bei den Hautzellen entsteht, wie überhaupt Krebs entsteht. Zu den erstaunlichen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört die Einsicht, daß Krebs als eine genetische Krankheit verstanden werden kann, als ein pathologisches Geschehen, das von Genen - vom genetischen Material - ausgeht, wobei die Onkologen zwei gegenläufige Beiträge des Erbguts unterscheiden. Zum einen kennen sie Onkogene, wie man sagt, deren Funktionieren im Normalfall - bevor sie Onkogene werden - für das Wachsen und Leben einer Zelle benötigt wird. Sie können sich - zum Beispiel durch UV-Licht - so ändern (mutieren), daß mit Hilfe der neuen Form eine Zelle zu wuchern beginnt und zu einem Tumorgewebe wird. Um dies im gesunden Normalfall zu verhindern - dies zum Zweiten -, hat die Evolution dem Leben genetische Wächter mit auf den Weg gegeben, die den anschaulichen und deskriptiven Namen Tumorsuppressorgene bekommen haben, weil sie die Bildung von Krebsgewebe verhindern. Sie erfüllen diese Aufgabe, indem sie den Zellzyklus kontrollieren und das Absterben von Zellen bewirken, wenn diese nicht weiter gebraucht werden. Wie es der Begriff ausdrückt: Tumorsuppressorgene übernehmen die Aufgabe, die außer Kontrolle geratene Teilung von geschädigten Zellen zu stoppen, aber wenn sie durch eine Mutation im Erbmaterial diese Aufgabe nicht mehr übernehmen können, beginnt übermäßiges Zellwachstum ohne Kontrolle, und es entsteht Krebs.
Das karzinogene Wuchern stellt für die Menschen und die Wissenschaft ein höchst verzwicktes und manchen Forschern unlösbar erscheinendes Problem dar. Einem Außenstehenden drängt sich der paradoxe Eindruck auf, daß das uralte Krebsproblem bis zum heutigen Tag so schwer in den Griff zu bekommen ist, weil die Tumorbildung eine Grundeigenschaft von Zellen zum Vorschein bringt und auf diese Weise untrennbar mit Leben verbunden ist und zu ihm gehört. Damit ist Folgendes gemeint: Die ersten Zellen, mit denen die Geschichte des Lebens vor ewigen Zeiten begonnen hat, traten sicher nicht in einem organisierten Verbund auf und haben weniger als Organismen und vielmehr einzeln gelebt, sich also mit Energie (Zucker) versorgt und geteilt. Der Vorschlag ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese ersten Zellen in ihrer elementaren Daseinsweise unsterblich waren. Sie haben sich geteilt und geteilt und diesen ständig wiederholten Vorgang zum Grundstein ihres Lebens gemacht.
Hier wird die Ansicht vertreten, daß das zelluläre Leben zunächst ohne den Tod entstanden ist. Am Anfang des Lebens war der Tod nicht dabei (von äußeren Gewalteinwirkungen abgesehen). Das Sterben oder Absterben ist erst in die Welt gekommen, als sich einzelne Zellen mit anderen verbunden und viele gemeinsam das gebildet haben, was erst ein Gewebe war und später ein Organ wurde, das schließlich in einem Organismus seinen Dienst versah. Es ist nicht eine Zelle, die stirbt, es ist ein Zellverband, der abstirbt, und auf diese Weise ist mit der Vereinigung von Zellen der Tod in der Welt erschienen. Mit der zellulären Verbindung zu einem größeren Ganzen ist aber auch der Krebs entstanden. Denn was immer einzelne Zellen in der strukturierten Gruppe an spezialisierten Aufgaben zu übernehmen hatten, sie mußten im Organismus das aufgeben, was sie am besten konnten, und das war, sich zu teilen. Der alte Traum einer Zelle, zwei Zellen zu werden, war ausgeträumt. Die Zellen in einem Körper mußten also daran gehindert werden, ihre eigentliche Qualität einzusetzen und vorzuführen. Allerdings sollten sie ihr Teilungspotential behalten, weil dies benötigt wurde, wenn es eine Wunde zu schließen gab. War die Heilung gelungen, galt es wieder, das urtümliche Teilungsverlangen zu unterdrücken. Und dies erlaubt folgenden Gedanken:
In einem Organismus entsteht Krebs dann, wenn sich einige Zellen diesen Zustand der Unterdrückung nicht mehr gefallen lassen und als Tumorzellen zu ihrem Wunschzustand zurückkehren, den sie seit dem Anfang des Lebens in sich tragen. Krebs ist so gesehen die Befreiung einer von Haus aus dynamischen Zelle aus dem Gefängnis, in das sie als ortsgebundener Teil eines vielzelligen Organismus eingesperrt ist. Deshalb ist Krebs vom Leben nicht zu trennen. lm Krebs kehrt eine Zelle in ihre ursprüngliche Existenzweise zurück und beginnt erneut, sich zu teilen und zu teilen, und es ist anzunehmen, daß sie sich dabei so wohlfühlt, daß sie nicht mehr damit aufhören möchte.
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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