Wenn über Nacht die Bomben fallen

Oksana Sabuschko – „Die längste Buchtour“

von Michael Zeller


Wenn über Nacht die Bomben fallen
 
Die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko 
berichtet von ihrer längsten Buchtour
 
Eine ganz kurze Reise sollte es werden ins Nachbarland Polen - Routine eines Schriftstellerlebens: von Kijiw brach Oksana Sabuschko auf, um in Warschau ihren Essayband „Planet Wermut“ vorzustellen. Am 23.Februar 2022 war sie losgefahren, verbrachte ihre erste Nacht in Warschau, da ging um 6 Uhr früh in ihrem Hotel das Telefon.
Die Stimme ihres Mannes aus Kijiw. Statt eines „Guten Morgen!“ hört sie die Worte: „Es hat angefangen. Sie bombardieren uns.“
Am 24.Februar 2022 geschah etwas bis dato kaum Vorstellbares. Ein europäischer Staatsmann, der Russe Putin, brach mit Militärgewalt in einen Nachbarstaat ein, um ihn sich zu unterwerfen. Krieg in Europa! Als hätten es die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts nie gegeben, gerade auch in diesem Raum.
 
     Natürlich wurde die ukrainische Autorin in den folgenden Tagen in Warschau bestürmt von den internationalen Medien und mußte Auskunft geben zu etwas, das über ihr eigenes Begreifen ging. Sobald Bomben auf das eigene Heim fallen, denkt man anders. Diese anhaltenden Interviews zehrten an ihren Nerven, zumal die Fragenden oft eine erschütternde Unkenntnis verrieten, die in solchen Zeiten besonders aufregt und schmerzt. So beschloß Sabuschko, ihre Tage in Polen zu nutzen, indem sie – aus dem Kopf, ohne die häuslichen Unterlagen – die unselige Geschichte ihres Landes Ukraine mit dem nördlichen Nachbarn Rußland aufschrieb, zumal für ein westeuropäisches Publikum, das hier einen immensen Nachholbedarf hat.
Den Sommer 2022 verbrachte die Autorin in verschiedenen Städten Polens, in Warschau, Danzig, Wroclaw, und schrieb in dieser Zeit den Essayband „Die längste Buchtour“. Er wurde bereits im gleichen Jahr aufgelegt (in Österreich), und erscheint jetzt in diesem Frühjahr 2025 als Taschenbuch, mit einem aktuellen Vorwort und zwei bislang unveröffentlichten Texten (im Fischer-Verlag).
Notgedrungen muß Oksana Sabuschko bei diesem Thema tief in die Geschichte ihres Landes eintauchen. Am ausführlichsten rekapituliert sie die dreißig Jahre ukrainischer Eigenstaatlichkeit ab 1991, seit ihr Land sich aus der kommunistischen Despotie der sogenannten Sowjetunion befreien konnte. Obwohl wir hier im Westen das meiste davon mitbekommen haben (aus weiter Ferne allerdings), fehlte uns der Blick (vielleicht auch der eines erfahrenen, weitsichtigen Politikers), der uns die Zeichen hätte deuten können, die jetzt, im Rückblick, allzu deutlich offen vor uns liegen. Die fünfzig Jahre, die Europa durch den „Eisernen Vorhang“ in zwei feindliche Lager getrennt war, hatten sich doch verheerend ausgewirkt.
 
     Oksana Sabuschko, die alle freiheitlichen Bewegungen in ihrem Land miterlebt und mitgetragen hat, weiß viel Erhellendes über den Kijiwer Maidan von 2014 zu erzählen, von Putins gewaltsamer Aneignung der Krim, seinen blutigen Kriegsmanövern im Osten der Ukraine, um Donezk und Luhansk: Wie Moskau ab 1991 nach dem Bankrott der Sowjetunion „stetig und konsequent daran gearbeitet hat, das Imperium wiederherzustellen und seinen Kurs Richtung Weltherrschaft fortzusetzen.“
Um nichts weniger als um die „Weltherrschaft“ nämlich geht es für Sabuschko dem russischen Kriegsverbrecher, und deshalb sei dieser Krieg nicht nur eine Herausforderung der Ukraine (auch wenn sie die meisten Opfer zu tragen hat), sondern vom ganzen Rest der Welt. Die Bedrohung durch den „russischen Nationalsozialismus“ gelte uns allen.
Die Analysen, die uns die leiderfahrene Autorin in ihrem Essayband „Die längste Buchtour“ vorlegt, ist erschütternd, verstörend, schürt Ängste. Was mich aber immer wieder wundert, ist der Mut dieser Ukrainerin: „Uns schreckt Putins nukleare Erpressung, im Gegensatz zum Westen, viel weniger. Wir kennen Rußland – wir wissen aus eigener Erfahrung, aus Sowjetzeiten, wie professionell Rußland blufft und wie schamlos es stiehlt, und die ukrainische Rechnung lautet hier in die Sprache des gesunden Menschenverstandes übersetzt: Mit größter Wahrscheinlichkeit ist der russische Atomwaffenvorrat längst gestohlen und in alle Richtungen verkauft, und falls etwas noch nicht gestohlen wurde, dann – wie ein ukrainisches Sprichwort sagt – ist der Teufel nicht so furchtbar, wie man ihn an die Wand malt.“
Zum Schluß ihres Buches setzt Sabuschko dann einen Satz hin, bei dem es mir kalt und heiß den Rücken runterläuft: „Nachdem wir (Ukrainer) im 20.Jahrhundert nicht alle (vom russischen Imperium) getötet worden sind, sind wir tatsächlich stärker geworden. Die Kraft des Lebens, der Liebe und der Freiheit ist auf unserer Seite.“
Wer das von sich sagen kann!
 
Oksana Sabuschko – „Die längste Buchtour“
Essay - aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
© 2025 Fischer Taschenbuch, 221 Seiten, Broschur – ISBN 978-3-596-70949-6
15,- €
 
Weitere Informationen: https://www.fischerverlage.de/