Vom Kopf auf die Füße

Wuppertaler Meinung und Dialog

von Lothar Leuschen​

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Vom Kopf auf die Füße
 
Wuppertaler Meinung und Dialog
 
Von Lothar Leuschen
 
Diskussionsrunden im Fernsehen sind nicht immer leicht zu verdauen. Oft ist alles schon gesagt, aber nicht von jedem. Das politische Personal beschränkt sich anscheinend auf maximal ein Dutzend. Die Fragen sind dann ebenso erwartbar wie die Antworten. Das liegt in der Natur der Sache. Aber es gibt immer wieder auch Ausnahmen von der Regel. In dieser Woche beispielsweise war es wieder einmal so weit. Im Zweiten Deutschen Fernsehen wendete sich Markus Lanz einmal mehr der Frage zu, warum in Deutschland zunehmend das Gefühl entsteht, daß nichts mehr funktioniert, die öffentliche Hand überfordert zu sein scheint, anscheinend kaum noch jemand an Besserung glaubt und mittlerweile jeder Vierte sich nicht mehr zu schade ist, seine Wahlstimme einer rückwärtsgewandten Stammtischpartei zu schenken. Und die Antwort lieferte Lanz gleich mit, unterstützt unter anderem von der scheidenden Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen. Dabei sprach die ehemalige SPD-Politikerin voller Liebe von ihrer Heimatstadt, erweckte beim interessierten Wuppertaler aber den Eindruck, daß es anderswo noch viel schlechter ist als im Schatten des Schwebebahngerüstes. Tröstlich ist das nicht. Denn die klaffenden Wunden ähneln sich zu sehr. Marode Straßen sind anscheinend noch das geringste Problem. Und überall in der Bundesrepublik Deutschland mangelt es den Städten und Gemeinden an denselben Ressourcen. Es fehlt an Geld und an Personal. Die Folgen sind dramatisch. Und sie sind überall jeden Tag sichtbar. Grundschulen funktionieren nicht mehr, weil zu viele Kinder nichts zuletzt mangels Sprachkenntnissen gar nicht beschult werden können. Kindergärten könnten dieses Problem vorzeitig beheben, wenn es denn genügend Plätze gäbe. Die alleinige Ursache für all das sind offenbar nicht Flüchtlinge, sondern überwiegend Arbeitsmigranten aus Staaten innerhalb der EU. So zumindest schilderte die Oberbürgermeisterin das in der ZDF-Runde einleuchtend.
 
Daß diese ohnehin schon schwierige Gemengelage mit regelmäßig neuen bürokratischen Herausforderungen noch verschärft wird, ist schlechte, vor allem deutsche Tradition. Vorschriften und Verpflichtungen sind teils so absurd, daß Landräte und Bürgermeister in der Runde bei Lanz verzweifelnd die Hände über dem Kopf zusammenschlugen.
Die Adressaten der vollständig berechtigten Kritik waren eindeutig. Die da oben. Die im Bund, die im Land. Die in den Regierungen und Parlamenten oberhalb von Stadt- und Gemeinderäten. Nur wer diese Menschen sind, wurde leider nicht vertieft. Dabei liegt da der Hase im Pfeffer.
 
Parlamente bestehen aus Mandatsträgern. Sie werden aus Wahlkreisen entsandt. Die Politiker kommen mithin selbst aus den Städten, deren Oberbürgermeister und Bürgermeister angesichts katastrophaler Arbeitsbedingungen die Alarmglocke aktivieren. Das bedeutet am Beispiel Wuppertals: Jürgen Hardt (CDU), Helge Lindh, Andreas Bialas, Dilek Engin und Josef Neumann (alle SPD) müßten eigentlich wissen, was die Stunde in Wuppertal geschlagen hat. Trotzdem verabschieden Bundes- und Landesparlamente seit Jahr und Tag anscheinend zunehmend Gesetze, die es dem Personal in den Verwaltungen unmöglich machen, seiner Arbeit so nachzugehen, daß die Bürger das Gefühl haben, gut versorgt und verwaltet zu sein.
 
Es ist müßig zu spekulieren, wann und wo Politikerinnen und Politiker das Gefühl für die Bedürfnisse ihrer Wählerinnen und Wähler verlieren. Es wäre aber an der Zeit, dieses Gefühl wieder zu entwickeln. Jeder Vierte ist schon bereit, sein Schicksal in die Hände einer sehr rechtsextremen und äußerst unsympathischen Chaostruppe zu legen. Wenn es nicht noch mehr werden sollen, muß die Politik schnell vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Der Alltag findet in Städten und Gemeinden Stadt, nicht „im Bund“ oder „im Land“. Und der Alltag muß funktionieren. In Wuppertal und überall.
 
 
Der Kommentar erschien am 26. April in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.