Augen und Ohren

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Augen und Ohren
 
Tagsüber blinzeln die Menschen alle paar Sekunden. Der dazugehörige Lidschlag breitet den Tränenfilm aus, den die Augen brauchen, weil sie sich dauernd bewegen müssen. Die Augäpfel befinden sich permanent in Bewegung, weil mit diesen Sakkaden das Sehvermögen verbessert wird. Grundsätzlich kann man sagen, daß die Evolution die visuelle Wahrnehmung auf das Erfassen von Bewegungen angelegt hat, die in den Anfangszeiten der Menschheit Gefahren erkennen ließen und auf diese Weise Feinde meldete, die sich heranpirschten. Wer in einem Saal von einem Rednerpult auf die Zuschauer schaut, kann abgelenkt werden, wenn irgendwo an der Seite eine kleine Tür aufgeht, wie schon erwähnt wurde. Insgesamt sind die Augen nach vorne gerichtet, um besser jagen und das anvisierte Opfertier genauer in den Fokus bekommen zu können. Aber beim Schauen erfasst man auch die Peripherie der gesehenen Szene, und damit dies verlässlich gelingt, müssen die Augen sich bewegen, und dafür brauchen sie die Flüssigkeit, die sie manchmal als Tränen ausscheiden. Nachts kann das alles zur Ruhe kommen, weshalb die Einschlafenden die Augen schließen. Die Evolution hat diese Situation genutzt, um auf der Netzhaut von geschlossenen Augen das Schlafhormon Melatonin entstehen zu lassen, mit dem es ab in den Tiefschlaf gehen kann.
     Übrigens - in den alten Tagen des Fernsehens und vor dem Aufkommen der HD-Bildschirme - sind Menschen häufig vor dem Gerät eingeschlafen. Das passiert heute weiterhin, wenn die Sendungen allzu langweilig werden und man sich wohlig warm fühlt, aber bei den ersten Fernsehgeräten kann man auf etwas anderes verweisen. Bekanntlich entsteht das gesehene Bild mit Hilfe von Elektronenstrahlen, die auf den Schirm treffen und dort leuchtende Flecke produzieren und hinterlassen. So schön das generierte Fernsehbild anzusehen ist, aus physikalischen Gründen bleibt es unscharf, weil die Elektronen dauernd neue Blitze generieren und die dadurch unruhigen Figuren verwaschen erscheinen lassen. Nun stört diese Unschärfe beim ersten Hinschauen nicht, aber das Gehirn unternimmt nach und nach ohne bewußten Auftrag von sich aus den Versuch zur Scharfstellung des Bildes, ohne damit Erfolg haben zu können. Während das Nervensystem sich dieser Aufgabe widmet, sinkt die Aufmerksamkeit des Fernsehenden für das Gesehene, und irgendwann tritt der Zustand ein, den man Dösen nennt und der sich bei Kindern und anderen TV-Konsumenten beobachten läßt, wenn sie zu lange auf den Bildschirm geschaut haben. Dann erschlaffen ihre Gesichtszüge, was dazu führt, daß die Dösenden zusätzlich ihre Zunge heraushängen lassen. Ihr Gehirn nimmt nicht mehr viel bewußt auf, kümmert sich aber unbewußt weiter um die Frage, wo genau die betrachtete Szene scharf gesehen werden kann, und sucht und sucht. Da es diese Stelle nicht gibt, dösen Fernsehzuschauer allmählich weg, ihre Augen fallen zu und sie schlafen im Sessel ein.
     Während die Fensterlein zur Welt zugefallen sind, bleiben die Ohren offen, auch wenn man sich manchmal wünscht, man könnte sie schließen, um störenden Lärm außen vor zu halten. Aber die Natur hat sich anders entschieden, um den Menschen ein 24/7-Warn- oder Alarmsystem mit auf den Lebensweg zu geben, mit dessen Hilfe sie auch nachts für Gefahren gewappnet sind - was im Übrigen zu einer Empfehlung für diejenigen führt, die nachts allein unterwegs sind. So schön die Musik aus den Kopfhörern sein kann, so gefährlich ist es, mit diesen von der Außenwelt abgeschotteten Ohren allein eine Stadt zu durchstreifen. Wenn man in eine gefährliche Lage gerät, bekommt man davon nichts mit, was ins Auge gehen kann, wie man sagt. Was das Schlafen mit offenen Ohren angeht, so werden alle, die kleine Kinder haben, wissen, daß die nicht abstellbare Hörfähigkeit der Eltern dafür sorgt, daß sie empfindlich auf unregelmäßiges Atmen im Nachbarbettchen reagieren oder andere störende Geräusche aus der Krippe wahrnehmen und deshalb sofort hilfsbereit aufspringen können, auch wenn dabei manche schlaflose Nacht zu registrieren ist. Man hört nichts von den Babygeräuschen, wenn man den Nachwuchs in ein anderes Zimmer sperrt, was den Hinweis erlaubt, daß der Schlaf für die ganze Familie besser wird, wenn die Eltern gemeinsam mit dem Kind in einem Zimmer ruhen - natürlich nur bis zu einem bestimmten Alter, das aber hier nicht festgelegt werden soll.
     Anders als die zur konzentrierten Jagd eingesetzten Augen sitzen die Ohren seitlich am Kopf - und sind mit einer Ohrmuschel ausgestattet. Dieser organische Trichter dient dem Auffangen der Schallwellen, und die Distanz zwischen beiden Ohren erlaubt es, durch Vergleich der Zeitpunkte, an denen die Schallempfänger am Schädel etwas wahrnehmen, die Quelle der Geräusche oder des Sprechens ausfindig zu machen. Die Kopfgröße sorgt für einen ausreichenden Unterschied beim Eintreffen der akustischen Signale, um dem Gehirn zu erlauben, eine Positionsbestimmung vorzunehmen. Während die Ohren dies vermögen, helfen die beiden Augen ihren Trägern vor allem, die Entfernung zu dem Ziel abzuschätzen, das sie in den Blick genommen haben. Menschen sind gute Raumkatzen.
Auch Tiere verfügen über Ohrmuscheln. Anders als beim Menschen sind sie beweglich und können zum Beispiel von Katzen aufgerichtet oder seitlich angelegt werden. Im ersten Fall fühlt sich das Samtpfötchen wohl, und im zweiten signalisiert die Katze ihre Angriffsbereitschaft. Menschen können nur wenig mit ihren Ohren wackeln. Dabei sind sie auf diese Weise besser in der Lage, die Quelle eines Geräusches zu orten, was wichtig zum rechtzeitigen Erkennen von potentiellen Gefahren ist. Und dann findet sich da noch etwas, nämlich die beiden Ohrläppchen, die in meiner Jugend gerne von hilflosen Lehrern zwischen den Daumen gerieben wurden, um die aufmuckenden Knaben zu bestrafen. Dabei stieg ihre Temperatur, und diese Erwärmung macht eine der Funktionen von Ohrläppchen aus, die man nach seiner Schulzeit bald als erogene Zone zu schätzen gelernt hat und nutzen konnte. Es wird einem beim Streicheln wohlig warm, und während dies passiert, hört das Ohr besser auf die Laute der Liebe, die Menschen sich zuflüstern und über die Muscheln den Weg durch den Kopf zum Herzen finden. Sie möchten mit ihrem vergnügten Tun manchmal gar nicht auf hören, was hier vor allem deshalb geschrieben wird, um auf das „hören“ in „aufhören“ hinzuweisen. Warum fordert man Menschen auf, mit etwas aufzuhören, wenn man sagen will, daß sie mit etwas Schluß machen sollen? Wahrscheinlich steckt in diesem Ausdruck der Hinweis auf eine drohende Gefahr, auf die man hören sollte, um sie zu lokalisieren, und um dies zu können, muß abgebrochen werden, was einen Menschen gerade beschäftigt. Er muß in diesem Sinne aufhören, um auf Geräusche möglicher Angreifer hören - also aufhören - zu können.
 
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
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Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.