Einsamkeit,
Mangel an Referenzinformation ?
Einsamkeit beschäftigt inzwischen auch Medizin ; denn chronische Einsamkeit ist statistisch mit einer Vielzahl von Erkrankungen, mit früherer Sterblichkeit und höherem Suizidisiko verbunden. Einsamkeit bedeutet vor allem eines: schwerer Stress. In England können Ärztinnen und Ärzte soziale Teilhabe, also Vereinsbesuche oder Kulturveranstaltungen, auf Rezept verschreiben. Früher war ja bekanntlich immer alles besser, vor allem in Frankreich. Michel de Montaigne fand in der Einsamkeit « glückselige Ruhe im Selbst » und Blaise Pascal konstatierte, daß alles « Unglück dieser Welt darauf beruht, daß die Menschen nicht verstehen sich ruhig in der Stube zu halten », bzw. „der Mensch nichts so sehr haßt, als mit sich selbst allein zu sein. Der große Philosoph Wilhelm Busch wußte, « Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut ». Heute dagegen macht Einsamkeit krank. Also beschäftigt sich die Wissenschaft damit und gründet gar ein Ministerium für Einsamkeit ( England 2019). Auch in Deutschland gibt es Kompetenznetzwerke zur Bekämpfung von Einsamkeit, und selbst die Bundesregierung hat eine Strategie dagegen entwickelt. Das Thema ist also alles andere als bedeutungslos
Janosch Schobin widmet dem Thema ein ganzes Buch. Im einleitenden Kapitel zeichnet er eine kurze Geschichte der modernen Einsamkeit nach. Viele Literaturzitate und ein spärlich strukturierter Satzspiegel erleichtern wie pseudowissenschaftliche Begriffsschöpfungen (Emanzipatiosdividende, Inklusionsdividende) Lesen und Verständnis nicht.
Schobin unterscheidet zwischen negativer und positiver Einsamkeit. Er stellt kollektive Erfahrungen der Einsamkeit - etwa nach dem 2. Weltkrieg - privater Einsamkeit in konsumorientierter Mittelklassegesellschaft gegenüber. Randgruppen wiederum erfahren die „Einsamkeit der Differenz“. Und was geschieht , wenn sich der Trend zur Ein-Kind Familie fortsetzt, zwei Einzelkinder ein Paar werden und ihrem Wunsch entsprechend kinderlos bleiben – potenziert sich dann die Einsamkeit ? Schwer zu sagen !
Die selbst gestellte Aufgabe aus einzelnen individuellen Biographien allgemeingültige Prozesse heraus zu lesen, fordert den Autor. Er will den Leser in den Stand versetzen, sich zwischen den verschiedenen Einsamkeitsformen in spätmodernen westlichen Gesellschaften selbst zurecht zu finden. Dazu berichtet er über 71 Interviews in Chile, in den USA und in Deutschland, die er zwischen 2013 und 2015 geführt hat. Anhand dieser Gespräche mit Einsamen wird deutlich, wie komplex das Problem „Einsamkeit“ tatsächlich ist . Für seine Analysen nutzt er nicht alle Interviews. Man liest über das Verhältnis von Emanzipation und Einsamkeit, über das Alleinsein von Sterbenden und das der Überlebenden. In dem Kapitel über die Einsamkeit der Fixpunktmacher erfährt der Leser, daß Einsame häufiger als Andere an Verschwörungstheorien glauben. Der NewYorker, der regelmäßig seine „Meise“ auf der Parkbank morgens um fünf Uhr pflegte, glaubte an eine politische Verschwörung von Pädophilen, auf Grund derer 2016 Trump gewählt worden sei. Den „Glauben an abstruse Figuren, die alles Versprechen“ nennt der Autor „Fixpunktversprechen“. Ein anderer, der einsame Pete, fotografierte jeden Morgen seinen Fixpunkt, nämlich den Baum neben seiner Parkbank. Die verschiedenen Interviews bieten interessante Aspekte in die afroamerikanische Gesellschaft, in den Niedergang schwarzer Gemeinden in New York sowie in die Drogenszene und die Kriminalität. Das ganze gesellschaftliche Elend der USA faßt Schobin unter dem Titel „100 Jahre schwarze Einsamkeit“ zusammen als Bilanz der Sozial- und Gesellschaftspolitik
Janosch Schobin – „Zeiten der Einsamkeit“
Erkundung eines universellen Gefühls“
© 2025 Carl Hanser Verlag 1. Auflage, 223 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und rotem Kapitalband, ISBN 978-3-446-28267-4
24,-€
Weitere Informationen : https://www.hanser.de/
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